Johannes Winkler: Der vergessene Raketenforscher von Dessau

Raketenpionier Johannes Winkler
Der vergessene Raketenforscher von Dessau

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Veröffentlicht am 18.03.2024

Fast wären sie unter dem Staub der Geschichte vollständig in Vergessenheit geraten: die Raketenforscher von Dessau. Seit zehn Jahren habe ich mich nun als Mitglied des Fördervereins im Technikmuseum Hugo Junkers Dessau mit dem Leben und Werk von Johannes Winkler und seinen Unterstützern, darunter Philipp von Doepp und Hugo A. Hückel, auseinandergesetzt. In diesen Jahren erschienen zahlreiche Artikel mit Zwischenergebnissen meiner Recherchen, 2022 schließlich das Buch "Johannes Winkler in den Junkers-Werken und die Dessauer Raketen". Das Manuskript über Winklers Wirken in der Luftfahrtforschungsanstalt in Braunschweig ist inzwischen fertiggestellt. Und diese Forschung ist es wert, darüber zu berichten.

Zeitschrift "Die Rakete"

Johannes Winkler war in den 1920er Jahren in Fachkreisen ein gut bekannter Raketenpionier, da er der Herausgeber der Zeitschrift "Die Rakete" und ihr eifrigster Autor gewesen war und als Vorsitzender des "Vereins für Raumschifffahrt" fungierte. Korrespondierte er zunächst vor allem mit Max Valier (1895 – 1930), so wandte er sich später immer mehr Hermann Oberth (1894 – 1989) zu, mit dem er 1926 Kontakt aufgenommen hatte. Winkler fesselte die Theorie von Hermann Oberth, die er 1923 in seinem Buch "Die Rakete zu den Planetenräumen" entwickelt hatte. Er wollte mitwirken an dem Ziel, ein Raumschiff zu bauen. Für den Raketenantrieb nahm er die Gasturbine von Lemale als Basis. Zwischen ihm und Hermann Oberth entwickelte sich ein intensiver Briefwechsel, der jedoch 1929 abbrach, als Johannes Winkler eine Tätigkeit in den Junkers-Werken Dessau aufnahm.

Sammlung Sagner

Winkler steigt ein

Johannes Winkler arbeitete in der Abteilung Strömungstechnik unter Leitung von Philipp von Doepp, der ihn bis 1939 forderte und förderte. Er bezahlte einerseits den Umzug der Familie Winkler aus Breslau, stellte aber auch die Bedingung, dass Winkler ausschließlich an den Ergebnissen der Entwicklungsarbeit ausschließlich in den Junkers-Werken anzuknüpfen hatte. Winkler fiel es nicht leicht, die zwischenzeitlich mit Hermann Oberth entwickelte Idee des Gegenspritzverfahrens aufzugeben, bei der die Treibstoffkomponenten gegeneinander zerstäubt werden sollten. Der Hintergrund für die eindeutige Festlegung der Arbeitsrichtung für Winkler war die mathematisch begründete Idee eines Raketentriebwerkes mit flüssigen Treibstoffen von Philipp von Doepp im Sommer 1929.

Wer war Philipp von Doepp?

Doepp wurde 1885 in St. Petersburg geboren. Sein Großvater war Leibarzt des Zaren, sein Vater Professor am Technologischen Institut in St. Petersburg. Nach der Oktoberrevolution 1918 in Russland übersiedelte er auf Einladung von Professor Hugo Junkers nach Aachen und später nach Dessau, der damaligen Hauptstadt des Herzogtums Anhalt. Über das Zusammentreffen von Junkers und Philipp von Doepp berichtete Ernst Zindel, der Chefkonstrukteur der Junkers-Werke, Folgendes:

Professor Hugo Junkers kam 1910 nach St. Petersburg, um dort für die von ihm entwickelten Schwerölverbrennungsmotoren zu werben, wobei er von Doepps Vater, mit dem er befreundet war, unterstützt wurde. Er bot Philipp von Doepp eine Assistentenstelle in seinem Maschinenlaboratorium an der TH Aachen an. Hier arbeitete von Doepp von 1910 bis 1912 an der Gasanalyse von Kesselfeuerungen nach Prof. A. Lomschakow und der experimentellen Analyse des Wärmeüberganges bei Verbrennungsmotoren zusammen mit dem damaligen Hauptassistenten Dr. Otto Mader. Mit beiden Männern blieb von Doepp Zeit ihres Lebens eng verbunden. In Dessau baute er im Rahmen der Forschungsanstalt Professor Junkers eine eigene aerodynamische Versuchsanstalt mit Windkanal und Wasserrundlauf auf, deren Leistungsfähigkeit im Laufe der Zeit den höheren Anforderungen entsprechend durch den Bau eines wesentlich größeren Windkanals gesteigert und durch einen Raketenprüfstand und einen Hochgeschwindigkeitskanal ergänzt wurde.

Privatarchiv Bernd Junkers

Versuche und Untersuchungen

Unter der Leitung von Professor Junkers machte Philipp von Doepp umfangreiche Versuche zu einem "dicken" freitragenden Flügel, der Gegenstand des bahnbrechenden Patentes von 1910 geworden war. Ein Vergleich des ersten Ganzmetallflugzeuges J 1 aus dem Jahr 1915 mit der Reißner-Ente von 1912 macht den bahnbrechenden Fortschritt deutlich. Schon frühzeitig wurden unter Leitung von Doepps auch eingehende Untersuchungen zur Erhöhung des Maximalauftriebs durch Düsenklappen angestellt, die zunächst zur Entwicklung des Junkers-Doppelflügels führten, der unter anderem für den Flügel der bekannten und später tausendfach bewährten Ju 52 zur erfolgreichen Anwendung kam. Hydrodynamische Untersuchungen im Wasserrundlauf dienten der Entwicklung der geeignetsten Formen für Schwimmer- und Flugboote. Schließlich wurden auch ausgedehnte Versuche an Raketenantrieben mit Benzin als Brennstoff durchgeführt, bis diese Raketenversuche vom Reichsluftfahrtministerium an anderer Stelle weitergeführt wurden.

Die Versuche ergaben sich aus der Tatsache, dass beim Start von Wasserflugzeugen wegen des erhöhten Wasserwiderstandes eine Verminderung der Nutzlast um etwa 20 Prozent vorgenommen werden musste. Zunächst wurden Starthilferaketen auf Basis spezieller Pulverraketen entwickelt, die jedoch zu teuer waren. Philipp von Doepp machte 1928 aber auch erste Berechnungen zu Raketenantrieben mit flüssigen Treibstoffen. Diese Berechnungen beinhalteten ein Triebwerk unter Verwendung von Benzin und Sauerstoff mit einem Schub von zehn Kilogramm. Später erreichte ein Raketenantrieb von Johannes Winkler nach diesen Angaben in der 14. Kalenderwoche 1930 tatsächlich einen Rückstoß von genau zehn Kilogramm. Philipp von Doepp blieb auch Abteilungsleiter im Bereich Strömungstechnik, als die Abteilung in das Flugzeugwerk verlagert wurde. Dort ging es ab 1933 um die Entwicklung eines gebündelten Triebwerkes für einen Flugzeugjäger. Doch dazu später. Ab 1928 verbrachte Philipp von Doepp einen Großteil seiner Freizeit bei Clara Hinze und ihren Kindern Ruth und Else. Else Medicus berichtete darüber 1993 in einer lesenswerten Familiengeschichte, die seltene Einblicke in das Privatleben von Philipp von Doepp gewährt.

Winklers vier Etappen

Die Forschungsarbeit von Johannes Winkler in Dessau kann in vier Etappen eingeteilt werden, wobei die dritte Etappe durch Arbeitslosigkeit, aber nicht durch Beschäftigungslosigkeit gekennzeichnet war. Zunächst sammelte er bei seiner Tätigkeit bis 1933 wertvolle Erfahrungen. In seiner Bewerbung bei den Junkers-Werken vom 31. Juli 1929 verweist Winkler vor allem auf seine Versuche zum Wärmeübergang und seine Überlegungen zu den Verbrennungsvorgängen in Triebwerken. Zu seiner Vorbildung erwähnt er das Studium mehrerer Semester Maschinenbau an den Technischen Hochschulen Breslau und Danzig und seine Arbeit für die Kaiserliche Werft zu Danzig. In dem Antwortschreiben vom 5. September 1929 stellt Philipp von Doepp ihm die eindeutige Bedingung, die in der Forschungsanstalt bereits begonnene Arbeit fortzusetzen. Winkler stimmt am 15. September 1929 den Vertragsbedingungen zu. Philipp von Doepp gewährt ihm daraufhin ein Darlehen von 600 Reichsmark, um den Umzug zu finanzieren.

Am 8. März 1930 vermerkt Winkler in seinem Protokoll, dass der Versuch am 6. März 1930 grundsätzlich gelungen sei. In einem Brief an Hugo A. Hückel informiert Winkler darüber, dass er zunächst mit Messing arbeitete und als Treibstoffe Benzin und Flüssigsauerstoff verwendete. Bei einem Druck von zehn atü erreiche er einen Schub von zehn Kilogramm. Damit bewies er die Richtigkeit der Berechnungen von Philipp von Doepp vom Sommer 1929. Am 3. Oktober 1930 schrieb Winkler an Hückel, dass bereits "gegen 100 ausgezeichnete Druck- und Rückstoßdiagramme" vorlägen. Damit belegte er auch, dass bei ihm keineswegs eine Scheu vor Versuchen vorhanden war, wie später Rolf Engel behaupten sollte. Der größte erreichte Schub läge bei 52 Kilogramm. Hervorzuheben ist die zweifache Schleierkühlung der Innenwand der Brennkammer mit Wasser, so wie es Philipp von Doepp im Sommer 1929 bereits skizziert hatte.

Sammlung Sagner

Etappe Zwei

Hugo A. Hückel erklärte sich am 20. Mai 1930 überraschenderweise bereit, einige Tausend Mark für den Bau einer Rakete unter der wissenschaftlichen Leitung von Winkler bereitzustellen. Damit sah Johannes Winkler eine größere Chance, schneller zu einer Höhenrakete zu gelangen und seine Schulden im Laufe der Zeit abzuzahlen. Winkler arbeitete zunächst in seiner Freizeit an dem Projekt, später dann in einer Arbeitsgemeinschaft mit Hückel. Er verwendete für seinen Prüfapparat HW 1 Methan und Sauerstoff (beides flüssig). Die Rakete startete am 14. März 1931 unter Zeugen in Dessau und wurde zur ersten europäischen Flüssigkeitsrakete. Die erreichte Höhe betrug zunächst bescheidene 20 Meter, die Rakete flog 200 Meter weit.

Weitere Tests führten zur neuen aerodynamischen Bauform der HW2, die eine Höhe von erstaunlichen zwölf Kilometern erreichen sollte. Die Brennkammer wurde am 25. Januar 1932 in Berlin-Tegel erfolgreich erprobt. Nach langem Suchen wurde den Versuchen ein Testgelände auf der Frischen Nehrung zugewiesen. Die Startversuche beider Raketen erzielten großes nationales und internationales Interesse. Der misslungene Startversuch der HW2 auf der Frischen Nehrung am 6. Oktober 1932 hatte gravierende Auswirkungen auf Johannes Winkler und seine Familie, da sich Hugo A. Hückel außerstande sah, seine Finanzierung fortzusetzen, und die Junkers-Werke noch nicht in der Lage waren, die Fortsetzung der Finanzierung beim Reichsluftfahrtministerium durchzusetzen. Es folgte daher eine bittere Periode der Arbeitslosigkeit bis Sommer 1933.

HORM

Winkler und von Braun

Die herausragenden Forschungsergebnisse von Winkler ab 1929 veranlassten Wernher von Braun, explizit in seiner Dissertation 1934 darauf einzugehen. Er favorisiert auch den in Dessau entwickelten Einspritzkopf. Im Weiteren übernahm er die Wärmeübergangszahl zwischen Gasöl und Luft aus den Berechnungen von Winkler. Von äußerster Wichtigkeit ist seine Aussage auf Seite 31 seiner Dissertation zur zukünftigen Entwicklung der Öfen. Er schreibt: "Die zukünftige Entwicklung der Öfen wird voraussichtlich von der schrägseitlichen Einspritzung des Brennstoffes in den Ofen fortführen. Einmal wird dann die Fertigung erheblich einfacher, da vier sehr lästige und schwierige Schweißungen fortfallen. Zum anderen besteht aber auch bei der Einspritzung von nur zwei Seiten stets die Gefahr kleiner Unsymmetrien, die sich bei dem Freiflug als schwer zu stabilisierende Kippmomente auswirken müssen. Man wird also voraussichtlich zu einem Einspritzkranz für den Brennstoff übergehen, durch welchen der Brennstoff unmittelbar unter die in der Mitte sitzende Sauerstoffdüse gespritzt wird." Diese Schilderung hat gewisse Ähnlichkeiten mit dem Konzept von Johannes Winkler, das er in den Junkers-Werken bis zu diesem Zeitpunkt (1931) realisiert hatte.

Die Vierte Etappe

Eine neue Etappe bei der Entwicklung der Bündelungstheorie begann 1933 mit dem zweiten Arbeitsverhältnis Winklers bei den Junkers-Werken. Auch hier erfolgte die Zielsetzung wie zu Beginn des ersten Arbeitsvertrages durch Philipp von Doepp – diesmal mit dem Projekt eines Flugzeugjägers vom 4. August 1932. Deutlich sind aus der Skizze von rechts der Pilotensitz, die Treibstoffbehälter und die fünf Raketendüsen zu erkennen. Aufgrund seiner praktischen Erfahrungen mit der HW1 und der HW2 begann Winkler die Triebwerksentwicklung mit den Treibstoffen Methan und Sauerstoff. Er erreichte damit im Dezember 1934 einen Schub von 270 Kilogramm. Doch am 18. Januar 1935 erlitt Philipp von Doepp einen Unfall bei der Explosion einer 300-Kilogramm-Einheit. Trotzdem wurde im April 1935 in einem Bericht noch ein Flugzeugjäger mit einem Methan-Sauerstofftriebwerk aufgeführt. Erst im Januar 1936 erfolgt der Übergang zu den Treibstoffen Benzin / flüssiger Sauerstoff.

Die Vorarbeiten für einen Plattenbrennraum begannen jedoch bereits im Herbst 1935. Spätestens im Herbst 1937 erfolgte die Erprobung einer Bündelung von drei Triebwerken montiert auf einem Lastwagen, der damit seine Runden auf dem Flugplatz drehte. Die praktische Entwicklung gebündelter Triebwerke wurde 1938 durch das Reichsluftfahrtministerium abgebrochen.

Deutsches Museum München

Braunschweig und Peenemünde

Winkler veröffentlichte bereits im Dezember 1927 in seiner Zeitschrift "Die Rakete" seine Grundidee der Bündelung von erprobten Einzeltriebwerken. Im Februar-Heft 1928 führt er dazu aus: "Es gibt noch einen anderen Beweis für die Möglichkeit der Weltraumfahrt, der noch zwingender ist, weil er nicht mit unbekannten Größen rechnet, sondern von dem Boden des bereits Gegebenen ausgeht. Es lässt sich nämlich zeigen, dass man auch aus einer großen Zahl unserer heutigen Raketen den Treibkörper des Raumschiffes erbauen kann." Dieser Grundsatzaussage folgten erstmals mathematische Abhandlungen. Eine Weiterentwicklung seiner Idee präsentierte Winkler bei einem Vortrag vor der Technisch-Literarischen Gesellschaft Berlin 1932. Er sprach dort in Abgrenzung von Robert Goddard und Hermann Oberth von der "Winkler-Methode". 1933 schrieb er über die Bündelung von Einzeltriebwerken in dem Buch "Männer der Rakete" von Werner Brügel.

In der Luftfahrtforschungsanstalt Braunschweig entwickelte Winkler 1942 seine Methode der Bündelung von Raketentriebwerken auf der Grundlage seines Forschungsprogramms von 1938 weiter. Er versuchte darin, die Frage der Leistungsfähigkeit eines einzelnen Triebwerkes mit der Bündelung von Triebwerken zu verbinden. "Da es nicht möglich ist, am kleinen Modell gewonnene Ergebnisse auf größere Einheiten zu übertragen, denken wir uns ein großes Triebwerk aufgeteilt in Einheiten, die der im Laboratorium untersuchten entsprechen. Umgekehrt führt der Aufbau eines großen Triebwerkes aus bekannten Einheiten zu dem mathematischen Ausdruck für den Betriebsstoffbedarf je Kilogramm Nutzlast, aus dem dann die allgemeine Kennzahl für die Bewertung von Rückstoßerzeugern gewonnen wird." Die Erweiterung seiner Überlegungen zur Bündelung von Triebwerken in drei Stufen findet sich auch im Zusammenhang mit seiner Vision eines Hochbombers.

Technisches Vermächtnis

Aufgrund der belegten informellen Beziehungen zwischen der JFM AG, der LFA (Luftfahrtforschungsanstalt) und Peenemünde Ost und West sowie der wissenschaftlichen Zusammenarbeit von Wernher von Braun mit Johannes Winkler ist es möglich, dass die theoretischen Erkenntnisse Winklers ihren Weg in die Heeresversuchsanstalt Ost gefunden haben. Dort legte Dr. Walter Thiel nach Rücksprache mit Wernher von Braun das Projekt der Entwicklung einer zweistufigen Interkontinentalen Rakete vor (A9/A10). Das Projekt sah für die A10 eine Bündelung von sechs Triebwerken mit je 30 Kilogramm vor.

Dokumente aus dem Deutschen Museum München und dem Historisch-Technischen Museum Peenemünde belegen, dass vor allem an einer A4 bzw. einer A9 gearbeitet wurde. Sein technisches Vermächtnis hinterlegte Winkler 1947 in seinen Berichten "Neuere Verfahren zur Berechnung der Dissoziation von Verbrennungsgasen in Raketen" und "Zusammengesetzte Raketen" für die britischen Behörden. Interessant ist dabei, dass Professor Busemann in der Beurteilung Winklers 1945 nur seine Berechnungen zur Gasdissoziation, nicht aber seine Raketenkennziffer 1942 hervorhob, die aber Gegenstand des zweiten Berichts war. Winkler wertete darin, soweit möglich, die zeitgenössischen Raketentriebwerke bis 1945 unter Nutzung alliierter Befragungsprotokolle aus. Johannes Winkler verstarb am 27. Dezember 1947 in Braunschweig. 1952/53 veröffentlichte Wernher von Braun die Zeichnung einer dreistufigen Weltraumrakete, die pro Stufe gebündelte Triebwerke hatte.