Sie ist das erste Langstrecken-Passagierflugzeug des Ostblocks und der Stolz der sowjetischen Luftfahrtindustrie: Ende der 50er-Jahre gilt die Tupolew Tu-114, der größte Airliner der Welt, als das Maß der Dinge. 54 Meter lang, mehr als 15 Meter hoch und mit einer Spannweite von über 51 Metern überragt sie alle zivilen Zeitgenossen deutlich – im Osten wie im Westen. Allein die in Zweierpaaren angeordneten gegenläufigen Propeller lassen Beobachter vor Ehrfurcht erstarren: Ihr Durchmesser beträgt 5,6 Meter und erfordert ein besonders hochbeiniges Fahrwerk für ausreichende Bodenfreiheit. Angetrieben von vier Kusnezow NK-12, den mächtigsten Turboprop-Motoren der Luftfahrtgeschichte, ist die Tu-114 damit zu Flugleistungen in der Lage, die sich auch gegenüber den bereits aufkommenden Jets nicht zu verstecken brauchen. Wo immer die Tu-114 auftaucht, zieht sie mit ihrer eleganten Erscheinung, dem Dröhnen ihrer Motoren und dem hochbeinigen Fahrwerk alle Blicke auf sich. Im September 1959, noch mitten in der Flugerprobung, beschert sie Regierungschef Nikita Chruschtschow in den USA einen großen Auftritt: Als die Tu-114 mit der sowjetischen Regierungsdelegation auf dem US-Stützpunkt Andrews bei Washington D.C. einschwebt, kann auch der Klassenfeind es sehen: Die UdSSR mischt in Sachen Flugzeugbau ganz vorne mit.
Mit der Tu-114 auf Rekordjagd
Ein halbes Jahr später, am 24. März 1960, starten die Tupolew-Testpiloten Iwan Suchomlin und Boris Timotschuk mit der Tu-114 CCCP-76459 zu einem Flug, der einen weiteren Meilenstein in der Historie des auf den Namen "Rossija" getauften Airliners setzen soll. Unter den gestrengen Augen der Offiziellen von der Fédération Aéronautique Internationale (FAI) wollen sich Suchomlin und Timotschuk mit ihrer Crew den Geschwindigkeitsweltrekord für Propellerflugzeuge sichern. Die Idee dazu stammt vom Luftsportkomitee des Sowjetischen Aeroclubs: Die ganze Welt soll von der bahnbrechenden Maschine Kenntnis nehmen.
Die CCCP-76459, Werksnummer 88402, ist die zweite Vorserienmaschine der Tu-114, gebaut 1958 und von Iwan Suchomlin persönlich eingeflogen. Am heutigen Tag gilt es, das Flugzeug möglichst schnell über einen 1000 Kilometer langen Rundkurs rund um Moskau zu jagen – um am Ende die Tu-114 offiziell zum schnellsten Propellerflugzeug der Welt zu krönen.

Mit Vollgas zum Weltrekord
Auf Kommando setzen die Piloten die Schubhebel der vier NK-12-Triebwerke auf Volllast. Ohrenbetäubender Lärm dringt ins Innere des Flugzeugs, dessen Kabine unter dem Eindruck der voll entfesselten Leistung von viermal 10875 kW zu vibrieren beginnt. Mit allem, was die Motoren zu bieten haben, prescht die Crew samt 30 Tonnen Nutzlast über den festgelegten Kurs – und meißelt den staunenden FAI-Offiziellen eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 871,38 km/h in die Bücher. Das Unterfangen ist gelungen, der Rekord ist offiziell: Die Tupolew Tu-114 ist das schnellste Propellerflugzeug der Welt.
Die FAI vermerkt den Rekordwert in der Turboprop-Klasse C-1. Dort tauchen die 871,38 km/h, die am 24. März 1960 erflogen wurden, gleich achtmal auf: als bester Wert ohne Nutzast, sowie mit 1000, 2000, 5000, 10000, 15000, 20000 und 25000 Kilogramm Nutzlast. Zweieinhalb Wochen später, am 9. April, fliegen Suchomlin und Timotschuk bei einem Rekordversuch über 5000 Kilometer gar 877,21 km/h schnell.
Nur die Bomber sind noch schneller
In der Statistik der FAI bleibt die Tu-114 dank ihrer 1960 aufgestellten Rekordmarken das schnellste Turboprop-Flugzeug aller Zeiten – auch wenn die militärischen Schwestermaschinen Tu-95 und Tu-142, die noch heute im Einsatz stehen, deutlich schneller fliegen können und in entsprechender Höhe Geschiwndigkeiten über 900 km/h erreichen. Zumindest für zivile Propellerflugzeuge aber sind die von der Tu-114 erreichten und von der FAI dokumentierten Flugleistungen bis heute ungeschlagen.
Das Flugzeug, mit dem diese Leistungen erreicht wurden, gibt es heute übrigens nicht mehr: Die CCCP-76459, die seit 1977 am Flughafen von Weliki Nowgorod ausgestellt war, wurde 1990 bei einem Brand zerstört. Insgesamt haben nur drei Tu-114 bis heute in Museen überdauert.