Die Szenerie mutet bizarr an: aus dem geöffneten Dach eines LKW-Anhängers starten kleine Drohnen und nehmen kurz auf ihre Ziele. Sie muten wie ferngesteuerte Spielzeugfluggeräte an, doch sie tragen Sprengsätze. Am 1. Juni führten ukrainische Spezialkräfte die Operation "Spinnennetz" aus und griffen so die strategische Luftflotte der russischen Streitkräfte an. Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs seinen mehr als 40 Flugzeuge, darunter das Frühwarnflugzeug Beriew A-50 Mainstay und die Tupolew Bomber Tu-22M Backfire und Tu-95 Bear.
Zu den Zielen gehörten die Basen Belaja, Ivanowo, Olenja und Rjasan-Djagilewo. Derzeit lassen sich die tatsächlichen Schäden nicht unabhängig beurteilen. Videoclips in den sozialen Medien zeigen unter anderem brennende Tu-95-Bomber. Ihre Oberseite sind mit alten Autoreifen bedeckt, um die Steuerungssysteme anfliegender Drohnen zu verwirren. Zumindest in diesem Fall hat dieser Schutzversuch nicht funktioniert. Auf einem weiteren Video sind mindestens drei in Flammen stehende Bears auf der Vorstartlinie zu erkennen. Hier soll es sich um den Flugplatz Olenja handeln.
Tupolew-Basen aufs Korn genommen
In Belaja bei Irkutsk sind normalerweise Tu-22M3 beheimatet, während Iwanowo die Basis der A-50-Frühwarnflotte darstellt. Olenegorsk/Olenja ist ein weiterer Backfire-Stützpunkt. In Rjasan-Djagilewo erfolgt die Ausbildung sowohl auf der Tu-22M als auch auf der Tu-95. Den wichtigsten strategischen Fliegerhorst Engels hat die Ukraine allerdings nicht angegriffen. Dort ist die Tu-160-Flotte Russlands stationiert.
Die Drohnen hatten ukrainische Spezialkräfte wohl unter anderem in Holzhäusern auf LKW-Anhängern in die Nähe der Ziele geschmuggelt. Der Start sei automatisch erfolgt, ohne dass Personal anwesend war. Die Vorbereitung der Aktion soll anderthalb Jahre gedauert haben.
Russland bestätigt brennende Flugzeuge
Das russische Verteidigungsministerium hat die Angriffe mittlerweile bestätigt. In einem Telegram-Post heißt es, dass "mehrere Teile von Flugzeugen in Brand geraten waren". Die Feuer seien aber gelöscht, und es hätte keine verletzten Soldaten oder Zivilisten gegeben.
Jedes verlorene Flugzeug stellt jedoch einen herben Verlust dar, denn die strategischen Bomber Tu-22M und Tu-95 werden nicht mehr gebaut. Ersatz steht höchstens in Form von eingemotteten Maschinen zur Verfügung, die aufwendig restauriert und modernisiert werden müssten. Ähnlich verhält es sich mit den noch selteneren Frühwarnflugzeugen. Schon der damalige Abschuss einer Mainstay war ein nur schwer zu kompensierender Rückschlag. Der bisher beispiellose Angriff dürfte die Diskussion über die Wiedereinführung von Flugzeug-Schutzbauten befeuern – und auch eine gravierende Reaktion Russlands nach sich ziehen.
Wie viele Tupolew-Bomber derzeit tatsächlich vorhanden beziehungsweise einsatzbereit sind, ist nicht öffentlich bekannt. Schätzungen gehen von insgesamt knapp 60 Tu-22M und rund 50 Tu-95MS im Inventar aus. Sollten die Behauptungen aus der Ukraine zutreffen, hätte Russland fast die Hälfte seiner strategischen Bomber verloren oder wenigsten zeitweise nicht einsatzbereit.