TAI-Chef Temel Kotil fiebert dem ersten Flug bereits entgegen. Der 64-jährige Luft- und Raumfahrtingenieur ist so etwas wie der "Godfather of Kaan", auch wenn das Kampfjet-Projekt der Türkei bereits im Gange war, als er im November 2016 bei TAI sein Amt antrat. Für Kotil ist der Stealth-Fighter eine Herzensangelegenheit, sein persönlich wichtigstes Projekt – daran lässt er beim Treffen mit der FLUG REVUE am TAI-Hauptsitz in Kahramankazan, einem Vorort von Ankara, nicht den geringsten Zweifel. Seine Augen leuchten, wenn er von "meinem Kaan" schwärmt, der bereits draußen auf dem Werksflugplatz im Hangar steht und auf den Erstflug vorbereitet wird. "Ich besuche ihn jeden Morgen, bevor ich ins Büro gehe, das ist ein richtiges Ritual geworden", schmunzelt der Mann, der bis Herbst 2016 auf dem Chefsessel von Turkish Airlines saß.

TAI-Chef Temel Kotil, früher bei Turkish Airlines, ist die treibende Kraft hinter dem Kaan-Programm.
Erstflug Ende Dezember?
Kotil lässt sich von seinen Ingenieuren akribisch über alle Details der Vorbereitung informieren – und ist optimistisch, dass der Zeitplan gehalten werden kann. Der sieht vor, im Dezember mit ersten Rolltests zu beginnen, um den Kaan-Prototyp dann kurz vor Jahresschluss zum ersten Mal in die Luft zu heben. Als Wunschtermin steht der 27. Dezember im Kalender. Die vorgelagerten statischen Tests hat das Flugzeug allesamt bestanden. Ausrüstung, die beim offiziellen Roll-out Anfang Mai noch fehlte, namentlich der Flugcomputer und ein voll funktionsfähiges Fahrwerk, ist zwischenzeitlich in die Zelle eingezogen.
Im Mai, kurz vor der Präsidentschaftswahl in der Türkei, konnte Kaan zwar schon aus eigener Kraft rollen, von einem flugbereiten Zustand aber war der Fighter noch ein gutes Stück entfernt. Das ist jetzt anders, wie Kotil unterstreicht: "Es läuft gut, wir sind im Plan, mit Gottes Hilfe werden wir unser Versprechen wahrmachen." Währenddessen ist die Produktion von zwei weiteren Testflugzeugen angelaufen, eines davon soll Mitte 2024 fertig sein. Erste Auslieferungen des Jets an die türkische Luftwaffe sind ab 2028 geplant.

Der Kaan-Prototyp in einer Werkshalle von TAI in Kahramankazan: Noch in diesem Jahr soll er abheben.
Der türkische Weg
Mit dem Kampfjet Kaan, dessen Entwicklung 2010 als "Milli Muharip Uçak" (MMU, nationales Kampfflugzeug) begann, beansprucht die Türkei endgültig einen Platz in der Riege der großen Flugzeugbau-Nationen. Ein Prozess, der sich seit Jahren angebahnt hat: Über die Rolle der "verlängerten Werkbank", mit der die Geschichte von TAI bei der Endmontage türkischer F-16 begann, ist man längst hinaus. Zwar fertigt TAI in Kahramankazan nach wie vor Komponenten für Jets von Boeing und Airbus und stellte bis zum Rauswurf aus dem F-35-Programm Rumpfmittelteile für den US-Fighter her. Doch schon beim Airbus-Militärtransporter A400M saß TAI auch als Designpartner bei der Entwicklung mit im Boot. Davon ausgehend, haben die Türken inzwischen ein breites Portfolio eigener Flugzeuge und Hubschrauber etabliert – vom Turboprop-Trainer Hürkuş und dem Kampfhubschrauber T129 Atak bis hin zum neuen Jet-Trainer Hürjet oder den Helikoptermustern Atak 2, Gökbey und TC925. Auch Kampf- und Aufklärungsdrohnen sowie Satelliten finden sich im Programm.

Staatspräsident Erdöan saß im Mai schon mal Probe im Kaan-Cockpit. Der Stealth-Jet ist ein absolutes Prestigeprojekt für die Türkei.
Motoren von GE, Sitz von Martin-Baker
Das Prestigeprojekt Kaan soll nun so etwas wie das Meisterstück werden – und die türkischen Streitkräfte im Einklang mit den anderen Projekten langfristig unabhängiger von Produkten aus dem Ausland machen. Bei TAI legt man großen Wert darauf, dass fast alle Komponenten des nationalen Kampfjets aus eigenem Hause oder von türkischen Zulieferern kommen. "Nur die Triebwerke und der Schleudersitz sind noch nicht türkisch, aber wir arbeiten an einheimischen Pendants", bekräftigt ein Sprecher. Die sollen spätestens 2030 serienreif sein, prophezeit er. Für TAI-Chef Kotil ist es von "nationalem Interesse", auch in den verbleibenden Bereichen möglichst schnell autark zu werden. Vorerst jedoch wird Kaan mit F110-GE-129-Triebwerken von GE Aerospace und einem Schleudersitz von Martin-Baker abheben.

Kaan ist als Kampfjet der fünften Generation ausgelegt - mit internen Waffenschächten und reduziertem Radarquerschnitt.
Eine Tarnkappe für Kaan
Insgesamt besteht ein Kaan-Exemplar laut offiziellen Angaben aus etwa 20.000 Einzelteilen. Bei TAI allein sind etwa 3.000 Mitarbeiter am Kaan-Programm beteiligt, davon rund die Hälfte in den Bereichen Design und Konstruktion. Am ausgewählten Entwurf sticht vor allem die markant hochgezogene Nase ins Auge. Auch die weit vorn liegenden Lufteinlässe wirken relativ wuchtig. Ansonsten zielt die Auslegung des Fighters auf die typischen Eigenschaften eines Kampfjets der fünften Generation ab: geringe Radarsignatur, interne Waffenschächte und Supercruise-Eigenschaften. Ergänzend dazu haben TAI-Spezialisten im Labor eine "Tarnkappe" für ihren Kampfjet entwickelt, in Gestalt einer hauseigenen Beschichtung, die Radarstrahlen schlucken soll. An der wird aber noch experimentiert – der Jungfernflug wird ohne den Speziallack stattfinden.

Die Eckdaten für den neuen Stealth-Fighter: 21 Meter lang, Mach 1.8 schnell und interaktiv vernetzt.
Türkisches Radar, türkische Avionik
Gut 30 Kilometer vom TAI-Hauptquartier entfernt, direkt vor den Toren von Ankara in der Gemeinde Yenimahalle, ist man derweil besonders stolz darauf, dass neben der Kaan-Zelle auch sämtliche Systeme und Sensoren für den neuen Kampfjet einheimischer Herkunft sind. Dafür zeichnet hauptsächlich Zulieferer Aselsan verantwortlich, der in Yenimahalle seine Zentrale hat. Aselsan steuert unter anderem das Helmdisplay TULGAR bei, außerdem Navigations- und Kommunikationssysteme, elektrooptische Sensorik, Selbstschutzsysteme – und die Radar-Suite BÜRFIS, bestehend aus einem leistungsstarken AESA-Radar und Systemen zur elektronischen Kriegsführung. Das Radar soll mehr als 2.000 Galliumnitrid-Module aufweisen.
"Es gibt nicht viele Länder auf der Welt, die ein solch modernes, leistungsfähiges Radar herstellen können", betont ein Manager des Rüstungskonzerns beim abendlichen Kurzbesuch der FLUG REVUE im Aselsan-Hauptquartier. Allerdings ist die komplette Suite noch nicht ganz fertig – und fehlt daher in der ersten Testmaschine. Erst der zweite Kaan-Prototyp soll plangemäß mit dem Radar bestückt werden. Ob das hinhaut? Der Aselsan-Mann lässt keine Zweifel gelten: "Seien Sie unbesorgt, wir werden das Programm nicht ausbremsen."