Es klingt verwegen: Ein Bremer Start-up mit 20 Mitarbeitern will ein wiederverwendbares, leichtes Mehrzweck-Raumflugzeug namens Aurora entwickeln. Die Fähigkeiten des Nurflüglers lesen sich beeindruckend: Er soll wie ein normales Flugzeug auf einer mindestens 2,5 Kilometer langen Startbahn abheben und landen, mit bis zu Mach 10 auf 150 Kilometer Höhe fliegen, in zweistufiger Konfiguration (mit einer nicht wiederverwendbaren Oberstufe) Nutzlasten bis zu 1000 Kilogramm in eine Erdumlaufbahn bringen, einstufig bis zu 10 000 Kilogramm Nutzlasten auf suborbitalen oder Hyperschall-Missionen mit sich führen und in weniger als 24 Stunden auf einen Start vorbereitet werden können. Der Flugbetrieb soll 2027 aufgenommen werden.

Eine Computergrafik zeigt das Aurora Raumflugzeug von Polaris während einer Mission. Die für den Hyperschallflug nötige Formgebung ist erkennbar.
Kosten und Flexibilität als Vorteile
"Ein Start mit Aurora wird bis zu Faktor 2 bis 3 günstiger sein als ein Flug mit einer vertikal startenden Rakete", sagt Annika Wollermann, Chief Commercial Officer von Polaris. Da das Raumflugzeug keine Startrampe braucht, über autonome Cruise-Fähigkeiten verfügt und in der Luft betankt werden kann, seien flexible Operationsbasen möglich, beispielsweise der Marineflugplatz Nordholz an der Nordsee, Andøya in Norwegen, Kourou in Französisch-Guayana oder auch die Azoren.
Viele Ideen – komplizierte Umsetzung
An Raumflugzeug-Konzepten mangelte es in den vergangenen 40 Jahren nicht, mit Sänger II stammte auch eines aus Deutschland. Allerdings wurden alle bisherigen Projekte aus Geldmangel, technischen oder politischen Gründen eingestellt. Geld ist für Polaris wie für fast jedes Start-up ein Thema, aber immerhin konnte das Unternehmen bislang drei aufeinanderfolgende Studienaufträge der Bundeswehr ergattern. Diese interessiert sich vor allem für die Möglichkeiten, die Aurora in Sachen Hyperschall-Aufklärung bieten könnte.

Ein beispielhaftes Missionsprofil des Aurora Raumflugzeuges.
Demonstratoren für die Testkampagne
Vier skalierte Demonstratoren hat Polaris seit 2020 in 39 Flügen erprobt. MIRA ist der fünfte und mit 4,3 Metern Länge und 2,3 Metern Spannweite bislang größte Demonstrator. Er absolvierte am 26. Oktober auf dem Flugplatz Peenemünde seinen Erstflug, allerdings noch rein turbinengetrieben. Wozu dienen die Demonstratoren? "Zur Validierung technischer Spezifikationen, um Aerodynamik, Flugregelung, Antrieb und das Tanksystem zu erproben. Und um schnell praktische Erfahrung aufzubauen, auch mit der Regulatorik", sagt Alexander Kopp, Geschäftsführer von Polaris. Bevor er 2019 Polaris gründete, war er fast zehn Jahre lang beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) tätig und hat sich bereits dort seit 2016 mit dem Aurora-Konzept beschäftigt.
Neuer Raketenantrieb
MIRA soll – neben vier Turbojets aus dem Modellbaubereich – erstmals ein von Polaris entwickeltes, lineares Aerospike-Raketentriebwerk nutzen. Ein lineares Aerospike-Triebwerk leitet die heißen Verbrennungsgase zur Schuberzeugung nicht durch eine glockenförmige Lavaldüse. Stattdessen wird eine v-förmige Struktur genutzt, an deren äußeren Oberkanten mehrere kleinere Kammern sitzen, aus denen die Abgase entlang der Stachelform nach unten fließen. Damit wird einer der größten Nachteile der Lavaldüse beseitigt und die Antriebsleistung vom Umgebungsdruck unabhängig gemacht. Die große Herausforderung ist jedoch die Kühlung. Dank additiver Fertigung sind aber neue Kühlkonzepte möglich. Aerospike-Triebwerke werden seit etwa sechs Jahrzehnten erforscht und getestet, bisher hat es aber keines in die kommerzielle Produktion geschafft.

Der Demonstrator MIRA lässt die starke Integration der Turbininentriebwerke erkennen. ZUsätzlich wird ein linearer Aerospike-Raketenantrieb eingebaut.
Erste Tests im Überschall geplant
Anfang Oktober erhielt Polaris die ersten Aerospike-Triebwerke mit 1 kN Schub für Bodentests, sie wurden von AM Global aus Starnberg additiv aus Inconel gefertigt. Die Bodenläufe begannen am 22. November. Derweil befanden sich zwei leichtere Testtriebwerke für MIRA in der Fertigung. MIRA soll noch dieses Jahr erstmals mit Aerospike fliegen, dafür steht Polaris ein 260 km2 großes Gebiet über der Ostsee zur Verfügung. Für das zweite Halbjahr 2024 ist schließlich die Flugerprobung des Demonstrators NOVA geplant. Er wird nicht mehr aus GFK, sondern wie später Aurora aus CFK gebaut, ist mit bis zu drei Aerospikes ausgestattet und soll erstmals mit Überschallgeschwindigkeit fliegen. Das 6,5 Meter lange Modell hat eine Abflugmasse von 1,2 Tonnen, es entspricht etwa einem Viertel der Größe des späteren Raumflugzeugs.

Ein Teil des Polaris Teams mit ihrem Demonstrator MIRA. Der Erstflug fand Ende Oktober 2023 in Peenemünde statt.
Kampfjet-Triebwerke für Aurora
Aurora soll einmal mit vier Turbofans und zwei linearen Aerospike-Triebwerken mit mindestens 800 kN fliegen. Beide Antriebsarten werden mit Kerosin betrieben, für die Aerospikes wird zusätzlich flüssiger Sauerstoff als Oxidator mitgeführt. Für den Aurora-Prototyp kämen als Strahltriebwerke das EJ200 (Eurofighter) oder das RB199 (Tornado) in Frage, so Annika Wollermann. Damit Aurora der aerodynamischen Erwärmung bei Über- und Hyperschall- Geschwindigkeit sowie beim Wiedereintritt in die Atmosphäre widerstehet, soll das Raumflugzeug mit einem metallischen Hitzeschild ausgestattet werden. "Der ist zwar schwerer als Keramik, aber robust, wartungsarm und einfach zu fertigen", sagt Kopp. Polaris’ Zukunftsvision für die 2030er Jahre ist aber noch größer als Aurora: Das wiederverwendbare "Future Heavy Spaceplane" könnte einmal konventionelle, senkrecht startende Schwerlastraketen ersetzen. Klingt verwegen.