Feines Kunstleder, weiche Oberflächen, edle Stoffe: Hochwertige Materialien gehören in der Business Class zum Standard. Aber Marmor für die Ablagefläche? Das war auch für die Ingenieure von Recaro Aircraft Seating neu. Doch genau das wünschte sich der Vorstand der südamerikanischen Airline LATAM für das Retrofit von 24 Boeing 787-8 und 787-9. Und er hat es bekommen. Bei unserem Besuch in Schwäbisch Hall Anfang November belegen die LATAM-Business-Class-Sitze eine der sechs Endmontagelinien. Die Sitze basieren auf dem Recaro-Entwurf R7 und wurden an die Wünsche der Airline angepasst. Die ersten umgerüsteten Boeing-Twins gingen im April 2025 in Dienst, die Modernisierung soll bis Mitte 2026 abgeschlossen sein.

Business-Class-Sitze für LATAM: Recaro fertigt den R7 nach individuellen Vorgaben der Airline.
Leichtbau im Fokus
"Unser Team hat zuerst geschaut, ob es hochwertiges Marmor-Dekor gibt. Aber nichts bot diesen unvergleichbaren ‚cold touch‘", sagt Dr. Mark Hiller, seit 2012 CEO, seit 2014 Gesellschafter von Recaro Aircraft Seating und seit 2022 zusätzlich CEO der Recaro Holding. Also wurde überlegt, wie sich der schwere Stein in den Sitz integrieren lässt. Die Entwickler fanden eine clevere Lösung: Eine nur ca. 2 mm dünne Schicht wird für die Ablagefläche verwendet. Sie wiegt etwa 1000 Gramm. Denn das Gewicht ist bei Business-Class-Sitzen, trotz oder wegen aller Raffinessen, ein Thema. Es geht sowohl um ökonomische Überlegungen – jedes Kilogramm mehr erhöht den Treibstoffverbrauch – als auch um die Gewichtsverteilung im Flugzeug. "Da können wir einen großen Unterschied machen", sagt Hiller.
Recaro gilt als Branchenprimus in Sachen Leichtbau; das hat der deutsche Hersteller schon bei seinen Economy-Class-Sitzen bewiesen. Dort wiegt der leichteste Sitz R1 rund acht Kilogramm. Bei der Business Class geht es um andere Dimensionen, aber es handelt sich auch mehr um Möbelstücke als um reine Sitze: Hier kommt Recaro auf unter 100 Kilogramm. Der R7 ist nach Angaben von Recaro Aircraft Seating das leichteste Business-Class-Produkt im Markt. "Es geht bei 82 Kilogramm los und je nach Ausstattung und mit Tür geht es in Richtung 90, 92 Kilogramm. Es gibt andere Produkte im Markt, deren Gewicht deutlich dreistellig ist", so der Recaro-Chef. Schon im Entwicklungsprozess überlegen die Recaro-Ingenieure, an welchen Stellen eine bestimmte Festigkeit und Steifigkeit benötigt wird, und an welchen Stellen nicht. Ein Beispiel ist die Rückenlehne: Früher war sie aus Metall, mit einem dicken Schaumpolster. "Wir nehmen heute einen Rahmen und bespannen ihn. Aufgrund der Flexibilität kann man mit einer deutlich dünneren Schaumauflage arbeiten, die den gleichen bzw. sogar einen besseren Komfort bietet", sagt Hiller. Das spare neben Gewicht auch Bauraum. Bei den Materialien setzt Recaro in der Business Class besonders auf leichte Faserverbundwerkstoffe. Viel Know-how steckt Hiller zufolge auch in der Verbindungstechnik.

Recaro Aircraft Seating produziert in Schwäbisch Hall.
Eigenes Testzentrum
Zurück zur Marmorplatte bei den LATAM-Business-Class-Sitzen: Sie hat auch die strengen Zulassungstests bestanden. Denn die Sicherheitsanforderungen sind in den verschiedenen Klassen an Bord dieselben. Dafür müssen die Sitze unter anderem zwei wichtige dynamische Tests bestehen: einen "Down-ward Crash", die Simulation eines Absturzes nach unten, und einen "Forward Crash", einen Aufprall nach vorn. Im ersten Fall muss ein Sitz die 14-fache Erdbeschleunigung aushalten, im zweiten sogar 16 g. Recaro Aircraft Seating verfügt seit 2021 über eine eigene Crashtest-Anlage mit einem Katapult in Schwäbisch Hall. Eine Herausforderung ist bei Business-Class-Sitzen der Winkel zur Flugzeuglängsachse, beim R7 sind es beispielsweise 8,5 Grad, und damit einhergehend die Frage, inwieweit sich der Nacken eines Passagiers bei einem Aufprall verdreht und welche Folgen das hat.
Auch für Umwelt- und Dauertests hat Recaro Aircraft Seating Labore vor Ort. Dort wird zum Beispiel die Aktuatorik bestimmten Temperaturen, Luftfeuchtigkeiten und Flüssigkeiten ausgesetzt bzw. der Sitz wird hunderttausende Male bewegt und auf Verschleiß geprüft. Denn neben Gewicht, Komfort und Sicherheit ist auch Zuverlässigkeit ein wichtiger Faktor bei der Sitzentwicklung. Zwei bis drei Jahre dauert es, bis eine modulare Plattform für einen Business-Class-Sitz entwickelt ist. Um diese Plattform für eine Airline anzupassen, muss man noch einmal bis zu zweieinhalb Jahre rechnen. Bei einem Economy-Class-Sitz nimmt dieser Prozess nur etwa die Hälfte der Zeit in Anspruch. Das liegt zum einen an der größeren Komplexität einer Business-Class-Suite. Aber auch daran, dass das Topmanagement der Kundenairline bei der Gestaltung der höheren Sitzklassen mitreden will. Große Airlines involvieren auch Vielflieger in die Entscheidung über neue Sitze und deren Entwicklung.

Iberia war die Erstkundin des R7.
R7 im Liniendienst
Den R7, der bis vor zwei Jahren CL6720 hieß, stellte Recaro 2020 als "Mini Suite in the Sky" vor. Erstkundin war die spanische Fluggesellschaft Iberia, die den Sessel seit 2023 in ihren A350 einsetzt. Anschließend hat Recaro den Sitz auch für die Boeing 787 angepasst, das nächste geplante Flugzeug ist die A330. Der R7 kann mit Schiebetüren ausgestattet werden und bietet direkten Zugang zum Gang. Die Sitzfläche lässt sich zu einem zwei Meter langen, flachen Bett ausfahren. Bedient wird der Sitz über kapazitive Touchsteuerung (wie bei Smartphones). Auf der Aircraft Interiors Expo 2025 in Hamburg zeigte Recaro einige Verbesserungen, darunter ein in die Kopfstütze eingebettetes Audiosystem mit zusätzlichen Lautsprechern in der Rückenlehne, sowie die Integration einer Software namens Healthy Motion Seating, welche die Sitzposition mit kaum spürbaren Bewegungen anpassen soll, um Druckpunkte am Körper zu reduzieren. Der Sitz kann in verschiedenen Layouts arrangiert werden. LATAM hat sich zum Beispiel für eine 1-2-1-Konfiguration entschieden, in der Mitte mit sogenanntem Honeymoon-Divorce-Arrangement. Dabei befinden sich abwechselnd zwei Sitze direkt nebeneinander, getrennt durch eine versenkbare Zwischenwand bzw. so angeordnet, dass die Konsolen mit Ablageflächen und Stauräumen aneinandergrenzen.

Die Trennwand zwischen den Sitzen lässt sich bei Bedarf herunterfahren.
Business Class wächst
Recaro Aircraft Seating produziert jährlich rund 120 000 Sitze, wovon mehr als 100 000 für die Economy-Klasse sind. "Wir sind Weltmarktführer in der Economy Class, sicherlich können wir da noch ein bisschen wachsen. Aber irgendwann kommen Limitierungen", sagt Hiller. Prognosen sehen das größte Wachstumspotenzial in den nächsten Jahren in der Business Class und der Premium Economy. Letztere ist vom Volumen her kleiner, wird aber auch von Recaro angeboten. "In der Business Class können wir sowohl über das starke Marktwachstum zulegen als auch über die Steigerung der Marktanteile", erklärt Hiller. Zudem würden Business-Class-Sitze auch von den vorhandenen Kompetenzen und der Marke her passen und das Recaro-Portfolio sinnvoll ergänzen. Dass die Business Class nach der Corona-Pandemie so stark wächst, war auch für Hiller überraschend. "Wir waren sicher, dass das Geschäft zurückkommt – und dass der Fokus auf der Economy Class liegen würde, vielleicht auch auf der Premium Economy. Das war eine komplette Fehleinschätzung von uns", gibt er zu. Während der Corona-Krise wurde im Unternehmen auch darüber diskutiert, dass Einsparungen in der Business Class getätigt würden, sollte es nötig werden. Es wurde nicht nötig, und heute liegt der Marktanteil von Recaro in der Business Class bei etwa zehn Prozent (um als Marktführer zu gelten, braucht man einen Marktanteil von rund 25 Prozent). 2026 wird der Umsatz aus der Business Class rund 20 Prozent des Gesamtumsatzes ausmachen. Bis 2028 soll sich der Umsatz aus diesem Segment verdoppeln.

Neues Feld für Recaro: Sitze für elektrische Lufttaxis wie jenes von der Embraer-Tochter Eve.
Vom Rückzug zur langfristigen Expansion
Schon vor rund 20 Jahren hatte der Hersteller Premium-Gestühl im Angebot. Business-Class-Sitze von Recaro fanden sich damals unter anderem bei American Airlines, Philippine Airlines und Lufthansa. "Wir haben viel gemacht, aber der Marktanteil war überschaubar", sagt Hiller. Deshalb habe man entschieden, die Business Class erst einmal nicht weiterzuverfolgen. "Die Komplexität hat damals nicht zu unserer Größe gepasst", so der Recaro-Chef. Um 2014/15 herum begann das Unternehmen, wieder in die Business Class für die Langstrecke zu investieren. 2019 wurde der erste CL6710, der Vorläufer des R7, an die israelische Fluggesellschaft El Al ausgeliefert. "Wir haben gute Erfahrungen gemacht, uns fokussiert und gehen konsequent einen Schritt nach dem anderen."
Und welche Pläne hat das Unternehmen, wenn das Ziel der Marktführerschaft in der Business Class erreicht ist? "Es gibt noch einige Felder, die wir aktuell nicht bedienen", sagt Hiller. Zum Beispiel bietet Recaro bisher keine Business-Class-Sitze für Langstrecken-Narrow-bodies wie die A321XLR. Und auch bei den Regionaljets sieht Hiller noch Wachstumsmöglichkeiten. Weiteres Potenzial hätten senkrecht startende und landende Elektroflugzeuge. Für Eve, die Lufttaxi-Tochter des brasilianischen Flugzeugherstellers Embraer, liefert Recaro bereits Sitze. "Diese Felder sind nicht notwendig, um Marktführer zu werden – aber, um ein komplettes Portfolio anbieten zu können."





