Flughafen Stuttgart, 18. September 2019. Mittwochabend. Nach einem prächtigen Altweibersommertag verabschiedet sich die Sonne mit goldenem Leuchten hinter den Horizont und gibt so die Bühne frei für die hereinbrechende Nacht. Der Schichtwechsel am Himmel ist das Signal zum Aufbruch für ein ganz besonderes Flugzeug, das seit dem frühen Montagmorgen in Stuttgart weilt und nun auf einen fast zehnstündigen Rundflug über das nächtliche Europa vorbereitet wird: Es trägt den Namen SOFIA und zählt zu den letzten fliegenden Boeing 747SP weltweit. Doch SOFIA sticht selbst aus diesem erlesenen Kreis noch heraus: Im hinteren Teil ihres Rumpfs fliegt sie ein 17 Tonnen schweres Infrarot-Teleskop spazieren, mit dessen Hilfe sie tief in die astronomischen Geheimnisse des Nachthimmels blicken kann. Bis zu viermal pro Woche hebt SOFIA, das "Stratosphären-Observatorium für Infrarot-Astronomie" von NASA und DLR, sonst zu diesem Zweck von ihrer Basis Palm-dale in Kalifornien ab. Heute Nacht jedoch geht es für Flugzeug und Besatzung in bisher unbekannte Gefilde: Zum ersten Mal überhaupt wird SOFIA zu einem Forschungsflug über Europa aufbrechen.

Crew-Verstärkung aus Deutschland
Das Kommando im SOFIA-Cockpit liegt heute in den Händen von Jeff Borton. Einst Starlifter-Pilot bei der US Air Force, fliegt er bei der NASA abwechselnd 747SP, Beech King Air und die DC-8. Ihm zur Seite stehen Copilotin Elizabeth Ruth und Flugingenieur Matt Pitsch. Bei normalen SOFIA-Flügen übernimmt eine einzige Crew den gesamten Flug vom Briefing bis zum Schluss, doch bei der Europapremiere wird ausnahmsweise durchrotiert: Auf den Business-Class-Sitzen im Oberdeck warten Ersatzpilot Tracey Phelps und der zweite Ingenieur Chris Farinha auf ihren Einsatz. Auch der Deutsche Georg Mitscher vom DLR hat dort Platz genommen. Er unterstützt seine US-Kollegen beim Dialog mit den Funkleitstellen. Insgesamt zwölf Länder wird SOFIA in den kommenden neun Stunden und 39 Minuten überfliegen – da ist Gesprächsbedarf programmiert.

Verständigung per Headset
Der Rest der Besatzung und die Passagiere – Forscher, Journalisten, Gäste – nehmen ihre Plätze im Hauptdeck ein. Anschnallen ist angesagt. Kommuniziert wird via Headset, im Flug müsste man sich sonst anschreien. Schallschutz ist bei SOFIA sekundär.
Mit SOFIA in den Nachthimmel
Fünf Minuten nach Sonnenuntergang steht der Jumbo Jet abflugbereit auf der Startbahn 07 des Stuttgarter Flughafens. "NASA 747 Heavy, cleared for take-off", schallt es um genau 19:38 Uhr über Funk aus dem Tower ins Cockpit. Kapitän Borton schiebt die Schubhebel nach vorn. Ein Ruck geht durch das ganze Flugzeug, die vier JT9D-Triebwerke schicken einen heulenden Gruß in die Kabine. Sekunden später macht sich SOFIA auf in den Abendhimmel, an Bord 30 Personen samt Verpflegung und 110 Tonnen Kerosin. Der Steigflug ist rasant: Keine halbe Stunde später kratzt die 747 bereits an der 38000-Fuß-Marke. Im Laufe der Nacht soll es gar bis auf 43000 Fuß gehen. 13100 Meter – klare Sicht in Richtung Sterne.





Rüstiger Oldie für die NASA
Mit ihrer sportlichen Attitüde war die Boeing 747SP – das Kürzel steht für "Special Performance" – erste Wahl, als NASA und DLR in den 90er Jahren nach einem geeigneten Flugzeug für ihr gemeinsames Projekt suchten. Die SP besitzt das gleiche Tankvolumen wie die Basisversion 747-100, ist jedoch kleiner, steigt schneller, fliegt weiter – und war als Gebrauchtjet günstig zu haben. Im Mai 1977 als eine von nur 45 gebauten 747SP an Pan Am geliefert und dort als "Clipper Lindbergh" bis 1986 im Dienst, flog SOFIA bis Ende 1995 für United. Zwei Jahre später kaufte die NASA den ausrangierten Jumbo. In Waco, Texas, begannen anschließend die Umbauarbeiten. Es galt, ein Teleskop zu integrieren, dessen Glaskeramik-Spiegel einen Durchmesser von 2,7 Metern besitzt. Damit dieser Spiegel freie Sicht zu den Sternen erhielt, mussten die Konstrukteure ein Loch in den Rumpf schneiden. "Von der 747SP existierten jedoch keinerlei CAD-Daten", erinnert sich Flugzeugbauer Thomas Keilig vom Deutschen SOFIAInstitut der Uni Stuttgart. Lediglich verzerrte Blaupausen alter Tuschezeichnungen waren verfügbar. "Aber die waren nicht maßstabsgetreu."

Jumbo Jet mit Loch im Rumpf
Die NASA besorgte sich daher das Rumpfstück einer weiteren 747SP und betrieb "Reverse Engineering": Man sägte den zweiten Rumpf im fraglichen Bereich auf und legte so die Geheimnisse der darunterliegenden Struktur offen. Erst danach wagte man sich an SOFIA heran. Vier auf sechs Meter misst das Loch nun in deren Rumpf, verschließbar durch ein dreiteiliges Türsystem. Anschließend kam ein Druckschott in den Flieger, in dessen Zentrum das Teleskop thront: Hightech made in Germany, auf einem Ölfilm gleitgelagert und mit Luftfedern gedämpft. Bewegungen des Flugzeugs werden so ausgeglichen, Vibrationen der Zelle abgefangen. "Bei besonders heftigen Turbulenzen können wir das Teleskop mit drei Bolzen fixieren", sagt Clemens Plank, SOFIA-Projektingenieur beim DLR. "Aber das kommt nur auf ganz wenigen Flügen vor."

Sesam, öffne Dich!
Heute Nacht ist keiner dieser Flüge. Die Luft ist ruhig, die erste Anspannung nach dem Start verflogen, und an Bord rüstet sich alles für den großen Moment: das Öffnen der Teleskoptür. Kurz hinter der Grenze zu Frankreich, die französischen Lotsen haben SOFIA gerade mit unverkennbarem Akzent in ihrem Luftraum begrüßt, geht es los. Mission Director Charlie Kaminski kontrolliert in der Mitte des Flugzeugs das Geschehen, geht mit Teleskop-Operatoren und Cockpit-Crew die Checkliste durch – und gibt schließlich das erlösende Kommando: "Open!" Oben im Cockpit legt Flugingenieur Pitsch den Schalter um. Und dann geschieht: nichts. Zumindest nichts Spürbares – kein Ruckeln und kein Rauschen, kein Zittern und kein Pfeifen. Nur ein kleines, grünes Licht auf dem Panel des Bordingenieurs, das anzeigt: Tor ist offen. Teleskop liegt frei. "Es macht keinen Unterschied, ob die Türe offen oder zu ist", bestätigt SOFIA-Pilot Jeff Borton. "Das Flugzeug fliegt sich in jedem Zustand bestens, die Ingenieure haben einen tollen Job gemacht."

Buckel statt Orgelpfeife
In der Tat steckt in der Teleskop-Öffnung eine gehörige Portion Ingenieurskunst, entwickelt in unzähligen Tests im Windkanal und am Computer. Das DLR selbst spricht gar vom größten Umbau, der je an einem zivilen Flugzeug vorgenommen wurde. Fakt ist, dass ein bloßes Loch im Rumpf für den Jumbo im Flug gravierende Folgen hätte. Dass das Flugzeug dabei klänge wie eine gigantische Orgelpfeife, wäre noch das geringste Übel. Die durch das Loch entstehenden Luftwirbel aber würden SOFIA wohl über kurz oder lang zerreißen. Deshalb haben die NASA-Ingenieure ihrer Sternwarte am Heck einen Buckel verpasst: Der birgt nicht nur den Mechanismus für die Türöffnung, sondern lenkt als Spoiler den Luftstrom am Rumpf über das Loch hinweg auf die Steuerflächen. So bleibt SOFIA auch bei harten Manövern stets stabil. Bis 2,5 g ist das Flugzeug zugelassen und erprobt. Damit die Zelle rund um die Öffnung und den Druckspant, der Teleskop und Kabine voneinander trennt, dieser Belastung standhält, musste sie ausgiebig verstärkt werden. Zahllose Niete, vertikal und horizontal übereinandergereiht, legen davon Zeugnis ab. Ein imposanter Anblick!
Sechs Objekte stehen auf der Liste
Imposant sind auch die Bilder der anvisierten Sterne, die nach dem Setup des Teleskops etwa eine Stunde nach dem Start über die Bildschirme der Wissenschaftler flimmern. Sechs Beobachtungsobjekte stehen für den Europaflug auf dem Programm. Die längste Aufmerksamkeit gilt der Sternenformation L 1495 im sogenannten Taurus Filament.

Astronomischer Europarundflug
"Wir wollen herausfinden, welche Rolle die Dynamik von Magnetfeldern für die Bildung von Filamentwolken spielt", erklärt SOFIA-Forscher Dr. Randolf Klein. In einer Flughöhe von 41000 Fuß (12500 Meter) dreht SOFIA hierfür über der Ostsee auf Kurs Südsüdost ein und fliegt über Polen, Tschechien, Österreich und die Adria bis kurz vor Sizilien. Unterbrochen wird der Leg von einer fünfminütigen Kurskorrektur: "Wir mussten den Flugplan leicht abändern, weil wir sonst in eine ‚danger area‘ des polnischen Militärs geraten wären", verrät Clemens Plank. Plank war im Vorfeld der Mission maßgeblich dafür zuständig, dass SOFIA alle nötigen Genehmigungen für die zu durchfliegenden Lufträume erhielt. Ein anspruchsvolles Unterfangen im dezen-tralen europäischen Luftraum.

Keine Zeit für Müdigkeit
So geht die Zeit in Siebenmeilenstiefeln dahin. Inzwischen ist es weit nach Mitternacht. Draußen ist es stockfinster. Doch von Müdigkeit ist bei den meisten Insassen nichts zu spüren. Und das, obwohl die Kälte an Bord in alle Knochen kriecht. Vor allem an den Füßen zieht es nahe der Kabinenwand gewaltig – zumindest dann, wenn man zu lange auf seinem Sitz verharrt. Kaffee und Tee helfen da ganz gut, die trockene Luft an Bord lässt sich am besten mit viel Wasser ausgleichen. Wer Hunger hat, schiebt sich Hähnchen mit Spinat in die Mikrowelle – eigens bestelltes Catering, ebenfalls ein Novum auf einem SOFIA-Flug. Für gewöhnlich sorgt hier jeder für sich selbst. Um drei Uhr morgens überqueren wir Rom, flankiert von einem wütend blitzenden Gewitter rechts unter dem Flügel. Über Mailand erreicht SOFIA schließlich ihre maximale Höhe für diese Nacht: 43050 Fuß.
Dann wird es langsam Zeit für den Nachhauseweg. Um 4:40 Uhr schließt sich die Tür über dem Teleskop, kurz darauf beginnt die Cockpitcrew den Anflug auf Stuttgarts Landebahn 25. Alle Daten sind im Kasten, die Forscher sind mit der Ausbeute zufrieden: "Das Teleskop hat gut funktioniert", resümiert Randolf Klein. "Soweit wir es jetzt schon sehen können, haben wir alles bekommen, was wir wollten. Auch wenn wir die Details natürlich noch auswerten müssen."

Mission beendet, ab ins Bett
Um kurz nach fünf dreht "NASA 747 Heavy" in den Endanflug ein, Höhe 5000 Fuß, Klappen auf fünf Grad. Zehn Minuten später, es ist 5:17 Uhr, setzt der Jumbo Jet auf dem Stuttgarter Manfred-Rommel-Airport auf und rollt zurück zur Parkposition. Der Rundflug ist zu Ende, die Europa-Mission ist geglückt. Und die Geschichte von SOFIA ist um ein weiteres Kapitel reicher.
