Der Dornröschenschlaf der RA-64509 währte fast ein Jahrzehnt: Am 25. Oktober 2015 wurde die Tupolew Tu-214, die diese Kennung trägt, an ihrem Produktionsort Kasan abgestellt und eingemottet. Seit April 2007 war sie zuvor für Transaero Airlines unterwegs gewesen – die zeitweise zweitgrößte Fluggesellschaft Russlands, die Anfang Oktober jedoch in die Insolvenz rutschte und den Betrieb einstellen musste. Im Zuge dessen musste die RA-64509, schon damals im Eigentum der staatlichen Leasinggesellschaft Ilyushin Finance, als designierter Dauerparker dorthin zurückkehren, wo sie im November 2006 ihren Erstflug absolviert hatte: nach Kasan.

Die Tu-214 RA-64509 flog von 2007 bis 2015 für Transaero. Dann stand sie fast neun Jahre herum.
Erster Flug nach neun Jahren
Doch unverhofft kommt oft, denn am 14. Juni dieses Jahres stieg die Ex-Transaero-Tupolew in Kasan zu ihrem ersten Flug nach knapp neun Jahren Standzeit empor. Eine Stunde und 15 Minuten dauerte der Ausritt, eine maximale Flughöhe von 10.000 Metern erreichte der Zweistrahler dabei, bevor er wieder sicher auf dem Kasaner Flughafen landete. Die Besetzung der Tu-214 habe unterwegs "die notwendigen Überprüfungen aller Systeme und Bordgeräte" vorgenommen, schrieb Russlands staatlicher Rüstungs- und Technologiekonzern Rostec später in einer Pressemitteilung. "Nach Angaben der Besatzung verlief der Flug wie gewohnt, die Systeme und Geräte funktionierten ohne Probleme."
"Stammvater neuer Tupolews"
Was aber führen Rostec und Ilyushin Finance mit der RA-64509 im Schilde? Warum haben sie das Flugzeug nach so langer Standzeit wieder aufgeweckt? Für reguläre Passagierflüge, so viel ist klar, wird es auf absehbare Zeit nicht eingesetzt. Stattdessen will Rostec die wachgeküsste Tu-214 nach eigenen Angaben als "fliegendes Labor" nutzen, um russische Systeme für künftige, neu produzierte Tu-214 zu testen, die bald im Flugzeugwerk Kasan aus der Halle rollen sollen. "Dieses Flugzeug wird das erste vollständig russische Flugzeug der letzten Jahrzehnte sein", konstatierte Konstantin Timofejew, Geschäftsführer der Rostec-Tochter Tupolew. Auf diese Weise werde die RA-64509 zum "Stammvater einer Linie völlig inländischer Tupolews."

Mit der RA-64509 sollen russische Testpiloten neue, einheimische Systeme für die Tu-214 erproben.
Die Tu-214 in Russlands Kalkül
Russland hatte sich im Frühsommer 2022 offiziell dazu entschlossen, in Kasan künftig wieder Tu-214-Exemplare für den Passagierdienst zu bauen. Der angestaubte Airliner, dessen Wurzeln noch in der Sowjetunion liegen, avancierte, angesichts westlicher Sanktionen, wegen seines geringen Anteils ausländischer Bauteile zum neuen alten Hoffnungsträger der russischen Zivilluftfahrt. Und das trotz antiquierten Dreimann-Cockpits und veralteter Triebwerke. Allerdings kristallisierte sich in der Folgezeit heraus, dass auch die Tu-214 in der Originalversion nicht gänzlich frei von Komponenten aus dem Westen ist. Damit die Russen ihre Pläne, bis Ende 2030 115 neue Tu-214 an russische Airlines auszuliefern, umsetzen können, bedarf es entsprechender einheimischer Alternativen.
Ersatz westlicher Bauteile
Diese Alternativen sollen künftig mithilfe der RA-64509 am lebenden Objekt auf ihre Tauglichkeit getestet werden. Aus Russland ist zu hören, dass es sich bei den zu ersetzenden Komponenten zum Beispiel um das Trägheitsnavigationssystem HG2030AE21 von Honeywell handelt. Ferner sollen nach Angaben der Luftfahrt-Webseite aviation21.ru das ebenfalls von Hoeywell stammende Wetterradar RDR-4B, das Bodennäherungs-Warnsystem EGPWS sowie das Notrutschensystem des US-Zulieferers Air Cruisers durch russische Pendants ersetzt werden. Insgesamt sollen bei der Tu-214 etwa 13 Prozent aller verbauten Teile aus westlichen Quellen stammen.
Zu vermuten ist, dass Rostec mit der RA-64509 mittelfristig auch ein neues Zweimann-Cockpit für die Tu-214 testet, dessen Erprobung ab 2026 eingeplant ist. Bis das Flugzeug in seiner neuen Rolle zum Einsatz kommen kann, dauert es jedoch noch ein paar Tage – aus kosmetischen Gründen. Denn die RA-64509 hat sich nach zwei Testflügen erst einmal in die weißrussische Hauptstadt Minsk verabschiedet. Dort soll sie ihr altes Transaero-Farbkleid abstreifen und einen neuen Anstrich in Werksfarben erhalten.