Mit der letzten Landung der Concorde am 26. November 2003 in Filton endete nach einem Vierteljahrhundert die Ära des Überschall-Passagierverkehrs, in der man in weniger als drei Stunden von London nach New York fliegen konnte. Der Versuch, ihr nach dem Absturz am 25. Juli 2000 in Paris eine zweite Chance zu geben, scheiterte an der wirtschaftlichen Realität. Europas Überschalljet war zu laut und seine Rolls-Royce-Triebwerke verbrannten zu viel Treibstoff. 34 Jahre nach ihrem Erstflug am 2. März 1969 war die "Königin der Lüfte" aus der Zeit gefallen.
Eine neue Dimension
Heute erlebt die Idee, mit zivilen Flugzeugen schneller als der Schall zu reisen, eine Renaissance. Start-ups wie Aerion, Boom Aerospace, Spike Aerospace und Virgin Galactic treten an, um die Schallmauer zu durchbrechen: Mittags ein Geschäftstermin in New York oder Dubai und abends wieder zu Hause bei der Familie sein? Wir machen es möglich, frohlocken die Unternehmen. Der Zeitgewinn gegenüber herkömmlichen Linienflugzeugen, schon heute wesentlicher Erfolgsfaktor für die Business Aviation, soll eine neue Dimension bekommen.
Optimistische Versprechen
Computermodelle helfen den Ingenieuren dabei, Flugzeuge zu entwickeln, denen der Spagat zwischen hoher Geschwindigkeit und niedrigen Betriebskosten gelingt. Noch in diesem Jahrzehnt sollen die ersten Jets kommerziell fliegen und erste Bestellungen liegen vor. Allerdings scheint es, als seien längst nicht alle Probleme gelöst. Den optimistischen Versprechen der Hersteller steht nicht selten ein Mangel an konkreten technischen Daten und plausiblen Finanzierungsmodellen gegenüber.
Der Überschallknall
Zentrales Problem ist der Überschallknall. Fliegt ein Flugzeug schneller als der Schall, ändern sich die Druck- und Strömungsverhältnisse. Wie ein Teppich zieht das Flugzeug einen permanenten Knall, der streng genommen aus zwei Elementen besteht, hinter sich her und lässt am Boden die Fensterscheibe vibrieren. Zivile Überschallflüge über Land sind deshalb in den USA und Europa gleichermaßen verboten, weshalb die Concorde erst über dem Ozean die Schallmauer durchbrechen durfte.

Dämpfung des Überschallknalls
Im Kampf gegen dieses Phänomen betreibt die NASA mit der X-59 Grundlagenforschung zur Dämpfung des Überschallknalls. Zudem arbeiten die Federal Aviation Administration (FAA) und das Verkehrsministerium in den USA an rechtlichen Rahmenbedingungen, um die Entwicklung und Erprobung der Projekte voranzutreiben. Kritik kommt derweil von Umweltschützern. Deshalb setzen die Hersteller auf effiziente Triebwerke und CO2-neutrale Treibstoffe.
Boom: XB-1 als Wegbereiter
Am 7. Oktober zelebrierte Boom Aerospace aus Denver, Colorado, den Roll-out der XB-1, ein aus Kohlefaser gefertigter Demonstrator, der 2021 zum ersten Mal fliegen soll. Der 21 Meter lange Einsitzer mit nur 6,40 Meter Spannweite soll, angetrieben von drei J85-15-Triebwerken von GE Aviation mit jeweils 53,4 Kilonewton Schub, Erkenntnisse für das Design des dreimal so großen Passagierflugzeugs Overture für 55 bis 75 Passagiere liefern. Letzteres soll 2025 aus der Halle rollen und ab 2029 Passagiere befördert.

Das Erfolgsrezept
Das 2014 gegründete, heute 140 Mitarbeiter starke Unternehmen hat in wenigen Jahren 160 Millionen Dollar Investorengelder gesammelt. Kleine, eng miteinander vernetzte Teams, numerische Simulation statt langwieriger physischer Tests, schnelle Fehlererkennung und -beseitigung sowie industrieller 3-D-Druck vieler am Computer entwickelter Komponenten seien das Erfolgsrezept, verkündet der Hersteller. "Wir entwickeln Overture als den ersten Airliner, der von Anfang an dafür gebaut ist, mit nachhaltig produziertem Treibstoff zu fliegen", sagt Gründer und CEO Blake Scholl. Dieses Credo gelte bereits für die Erprobung der XB-1. Die Strategie beim Überschallknall ist konservativ: Erst über dem Meer soll die Overture die Schallmauer durchbrechen. Für die Passagiere an Bord sei dieser Moment weder hör- noch spürbar.
Transatlantische Reichweiten
Geht es um technische Details, wird Boom nicht allzu konkret. Wurde für die Overture bisher eine Geschwindigkeit von Mach 2.2 kommuniziert, so sucht man diese Angabe für die beiden Flugzeuge in den aktuellen Fact Sheets vergebens. Stattdessen wirbt Boom Aerospace mit Flugzeiten: Overture sei konzipiert, um in dreieinhalb Stunden von London nach New York oder in sechs Stunden von San Francisco nach Tokio zu fliegen. Der Jet soll transatlantische Reichweiten ermöglichen, auf Pazifikrouten müssten sich die Passagiere aber auf einen Tankstopp einstellen. Zu den Kunden, die sich für den 200-Millionen-Dollar-Airliner interessieren, gehört Japan Airlines, während die US Air Force ein überschallschnelles Regierungsflugzeug plant.
Kooperation mit Rolls-Royce
Die größte Frage bleibt offen: Welche Triebwerke sollen den Passagierjet Overture antreiben? Ende Juli gab Boom eine Kooperation mit Rolls-Royce bekannt, mit der die Partner allerdings "nur" unter dem Hauptaspekt Umweltschutz Antriebsvarianten sichten wollen. Viel Zeit für die Auswahl des Antriebs bleibt nicht mehr. Schon ab 2022 soll die Montagelinie der Overture gebaut werden. Dann soll die XB-1 über der Mojave-Wüste bereits mit Überschalltempo fliegen.
Aerion: Der moderate Ansatz
In Sachen Triebwerk ist die Aerion Corporation der Konkurrenz einen Schritt voraus: 2019 hatte das Unternehmen die Kooperation mit GE Aviation als Triebwerkszulieferer für die AS2 bekannt gegeben. Affinity heißt der Turbofan mit einem für ein Überschalltriebwerk besonders hohem Nebenstromverhältnis. Es leistet rund 80 Kilonewton Schub, kommt ohne Nachbrenner aus und ist für eine maximale Betriebshöhe von 18 km ausgelegt. Drei davon sollen den für acht bis zehn Passagiere ausgelegten Business Jet Aerion AS2 antreiben.

Zwei große Design-Änderungen
Das Projekt, dessen Wurzeln in die 1990er Jahre zurückreichen, hat bis dato zwei große Design-Änderungen erfahren. Aus der zweistrahligen Aerion SBJ (Supersonic Business Jet) ging 2014 die größere, 45,20 Meter lange AS2 hervor. Zuletzt wurde im April 2020 eine neue Auslegung mit Delta-Flügel, modifiziertem Leitwerk und geänderter Triebwerksanordnung präsentiert. Die Kabine soll 8,10 Meter lang, 2,40 Meter breit und 1,90 Meter hoch sein. Dieser Entwurf muss nun als Modell seine Qualitäten im Windkanal unter Beweis stellen.
Das "langsamste" Flugzeug
Unter den aktuellen SST-Projekten ist die AS2 das "langsamste" Flugzeug: Angestrebt wird eine Geschwindigkeit von Mach 1.4 im Überschallflug und Mach 0.95 im Unterschallbereich. Den Überschallknall möchten die Entwickler soweit reduzieren, dass er abhängig von den atmosphärischen Bedingungen bis zu einer Geschwindigkeit von Mach 1.2 am Boden kaum hörbar sein soll. Corona-bedingt wurde der Erstflug von 2024 auf 2025 verschoben, die Indienststellung der AS2 ist – Stand Sommer 2020 – für 2027 geplant. Erstkunde für die AS2 ist Flexjet: Das Fractional-Ownership-Unternehmen hat eine Bestellung über 20 Flugzeuge im Wert von 2,6 Milliarden US-Dollar unterzeichnet. Das Unternehmen aus Reno, Nevada, plant einen Umzug seiner Zentrale nach Melbourne an Floridas Space Coast. 675 Arbeitsplätze sollen bis zum Jahr 2026 im geplanten Aerion Park entstehen.
Spike lässt es leise knallen
Spike Aerospace aus Boston entwickelt einen Business Jet, der mit Mach 1.6 bis zu 18 Passagiere befördern soll. Nach Aussage des Herstellers könnte die S-512 bereits 2025 zum Preis von 125 Millionen US-Dollar auf den Markt kommen. 17,70 Meter Spannweite, 37 Meter Länge und 52 Tonnen maximale Abflugmasse lauten die angestrebten Eckdaten. 11 480 Kilometer (6200 nautische Meilen) Reichweite werden angestrebt, ermöglicht durch zwei Triebwerke mit jeweils 88,9 Kilonewton Schub – wer den Antrieb liefern wird, bleibt im Ungewissen. Ein Flug von London an die Ostküste der USA soll rund drei Stunden dauern, Japan wäre in etwa sechseinhalb Stunden erreicht. Ende 2021 soll ein verkleinerter Demonstrator die Machbarkeit der Technologie in Flugversuchen beweisen.

Reduzierung des Überschallknalls
Einen Schwerpunkt setzt Spike beim Thema Lärm. "Die Reduzierung des Überschallknalls ist eine Kombination von Faktoren wie Gewicht, Länge und Geschwindigkeit des Flugzeugs", sagt Vik Kachoria, CEO von Spike. "Durch die Formgebung von Nase, Rumpf, Tragfläche und Leitwerk können wir die Druckwelle minimieren und sie dann weiter reduzieren, indem wir die Koaleszenz der Wellen aufheben."
"Multiplex Digital Cabin"
Unkonventionell sind die Pläne für die "Multiplex Digital Cabin" ohne Fenster. Kameras erfassen die Umgebung und übertragen ihre Daten auf Panorama-Bildschirme, die so lang wie die Kabine sind. Auch Filme oder Büroanwendungen lassen sich auf diesen XL-Monitoren darstellen. Was den Passagieren ein multimediales Erlebnis bescheren soll, ermöglicht es den Ingenieuren, den Rumpf stabiler zu bauen und den Geräuschpegel an Bord zu minimieren.
Virgin Galactic greift nach den Sternen
Als neuester Player hat Virgin Galactic, bekannt durch seine Ambitionen im privaten Weltraumflug, im August den Entwurf eines Mach-3-Flugzeugs enthüllt. Dazu hat das britische Unternehmen des charismatischen Gründers Richard Branson eine Absichtserklärung mitRolls-Royce zur Zusammenarbeit bei der Entwicklung des Antriebs bekannt gegeben – jener Partner, mit dem auch Boom Aerospace nach Lösungen sucht. Der "Mission Concept Review" sei gemeinsam mit der NASA abgeschlossen und eine Kooperation mit der FAA vereinbart, um einen Zertifizierungsrahmen zu entwerfen.

Einbeziehung nachhaltiger Technologien
Der Delta-Flügler soll in einer Höhe von mehr als 18 Kilometern fliegen und Platz für neun bis 19 Passagiere bieten. Auch Virgin Galactic erwähnt die Verwendung von nachhaltigem Kraftstoff und die Einbeziehung nachhaltiger Technologien bei der Konstruktion. Nun geht es darum, Systemarchitekturen und -konfigurationen zu definieren und Werkstoffe für die Fertigung festzulegen. Weitere Herausforderungen liegen in Temperaturmanagement, Wartung, Lärm, Emissionen und Wirtschaftlichkeit. Virgin Galactic plant verschiedene Einsatzszenarien, einschließlich Passagierflügen auf Langstrecken. Einen Zeitplan nennt das britische Unternehmen nicht.
Grundlagenforschung bei der NASA
Ohne kommerziellen Hintergrund untersucht die NASA den Überschallknall. Ihr Mittel der Wahl ist die X-59 QueSST (Quiet Supersonic Technology), das erste bemannte X-Flugzeug seit mehr als 30 Jahren, das von Lockheed Martin in deren Skunk Works in Palmdale, Kalifornien, gebaut wird. Mit der lang gestreckten, spitzen Nase und dem schmalen Rumpf soll der Überschallknall auf ein dezentes Geräusch reduziert werden. Die Flugerprobung soll im Sommer 2022 beginnen. Anschließend will manbeim Überflug ausgewählter Gebiete das Feedback der Bevölkerung sammeln. Ob die Daten rechtzeitig vorliegen, um in die aktuellen Projekte einzufließen, scheint deshalb fraglich.