Zwei Beechcraft Bonanza und eine Piper Saratoga mit jeweils zwei Piloten und zwei Fotografen an Bord rollen zur Piste 25, begleitet von den beiden SIAI Marchetti SF-260 der Vater-Sohn-Formation Ralf und Nico Niebergall. Zusammengenommen sind es rund 1.400 Pferdestärken aus 30 Zylindern, die sich für den bevorstehenden Takeoff warmboxen und den Hildesheimer Flugplatz beben lassen. Das Stichwort "Elephant Walk" macht die Runde unter den Anwesenden. Dieser Auftritt wäre schon beeindruckend genug, doch "Louisiana Kid" schafft es, selbst diese ausgewachsenen Einmots schmächtig erscheinen zu lassen. 1.590 PS stemmt ihr Rolls-Royce Merlin auf den mächtigen Propeller. Schon im Leerlauf geht sein Grollen durch Mark und Bein – nichts für sensible Gemüter, aber ein Hochgenuss für all jene, die einen Schuss Avgas im Blut haben.
Air-to-Air der Extraklasse
Herrscher über die Urgewalt des V12-Kraftpakets ist Wilhelm Heinz, der seine mehr als drei Tonnen schwere P-51D Mustang von der Homebase Albstadt-Degerfeld nach Hildesheim gebracht hat. In dichter Folge starten die Maschinen in den niedersächsischen Abendhimmel. Ihre Mission: In den kommenden 60 Minuten sollen unvergessliche Air-to-Air-Aufnahmen der Mustang und der Niebergall-Formation entstehen.
An jenem Juni-Wochenende mit den längsten Tagen des Jahresist die Aviators Farm zum dritten Mal Schauplatz von "Behind the Lens". Das von unserem Schwestermagazin "Klassiker der Luftfahrt" organisierte Fotoseminar vermittelt die Kunst der Air-to-Air-Fotografie auf einem neuen Level. Das Konzept: Individuelle Betreuung statt Massenabfertigung und eine gewissenhafte Vermittlung der theoretischen Grundlagen, bevor es in die Luft geht. Philipp Prinzing, "Klassiker"-Chefredakteur, passionierter Air-to-Air-Fotograf und treibende Kraft hinter dem Projekt, erklärt den Teilnehmern das Rezept für gelungene Air-to-Air-Fotos – und das beinhaltet weit mehr als nur die fotografischen Basics wie Blende, Zeit und Brennweite. Angefangen wird bei den luftrechtlichen Grundlagen, es geht um die Organisation einer solchen Mission bis hin zur praktischen Umsetzung. "Zwei Fotografen pro Flugzeug. Ihr allein habt es in der Hand und gebt den Piloten mit Handzeichen die Kommandos", baut Philipp die Spannungskurve auf. Mit einem Augenzwinkern fügt er hinzu: "Wenn ihr das wollt, stecken die Niebergalls auch den Flügel durch die offene Tür." Zugegeben, ganz so eng geht es dann am Himmel doch nicht zur Sache.

P-51D über Hildesheim, perfekt in Szene gesetzt vor untergehender Sonne: Fliegerromantik pur.
Die Magie der Propellerkreise
Zwei Dinge stehen im Mittelpunkt: Sicherheit und das fotografische Ergebnis. "Propellerkreis" ist wohl das Schlagwort des Wochenendes schlechthin;es brennt sich bei allen Teilnehmern ein. Lange Belichtungszeiten sind das Mittel der Wahl, um die Propellerblätter auf dem Foto in eine Scheibe zu verwandeln. 1/80 Sekunde oder noch längere Belichtungszeiten in 6.000 Fuß Höhe bei einer Geschwindigkeit von rund 150 Knoten – unmöglich? Von wegen! Ausschuss wegen Unschärfe ist erst mal zweitrangig. Sortiert wird später. Zumal die Technik mit stabilisierten Objektiven und Sensoren die Grenzen des Machbaren nachdrücklich verschoben hat. In der Luft zählt jede Minute, vor allem bei kosten- und wartungsintensiven Warbirds wie der Mustang vor der Linse. Zu kurze Belichtungszeiten führen dagegen zu stehendem oder nur teilweise drehendem Propeller mit hässlichen Tortenstücken. Solche Bilder sind mangels Dynamik nicht selten ein Fall für die digitale Rundablage.

Briefing vor dem großen Finale: Die Sicherheit steht natürlich stets ganz oben.
Präzision am Himmel
Großgeschrieben wird die Sicherheit. So steht am Anfang eines jeden Flugs das Briefing zwischen Piloten und Fotografen. Routen, Höhen, Frequenzen werden festgelegt, Handzeichen noch einmal wiederholt. Rauf, runter, vor, zurück. Für die Niebergalls gibt es zudem ein Zeichen für "smoke on". Der Fotograf gibt die Kommandos, die Piloten der zu fotografierenden Flugzeuge setzen diese um und bleiben dem Fotoship ganz dicht auf den Fersen. Entscheidend ist der ständige Blickkontakt zwischen Pilot und Fotograf. Die Piloten des Fotoflugzeugs geben die Richtung vor, beobachten den Luftraum und geben Anweisungen auch schon mal per Funk weiter. Eine Air-to-Air-Mission ist Präzisionsarbeit und nichts für "zwischendurch"! Auch diese Erkenntnis ist neu für einige der zehn Teilnehmer, von denen die Mehrheit selbst keine Pilotenlizenz besitzt. Ein weiterer Aspekt ist, dass sich die Fotografen mit Gurtzeug sichern. Jenseits der offenen Luke in der Bordwand kommt eben nur noch der Abgrund.
Neu bei der 2024er Auflage von "Behind the Lens" ist die Aufteilung in einen Basis- und einen Fortgeschrittenenkurs. Sechs Teilnehmer sind zum ersten Mal dabei, vier sind Behind-the-lens-Wiederholungstäter oder haben anderweitig Erfahrung in der Flugzeugfotografie gesammelt. Die Neulinge bekommen von aerokurier-Redakteur Patrick Holland-Moritz Tipps an die Hand, worauf es ankommt, wenn man Flugzeuge am Boden in Szene setzen möchte. Die Profis steigen zeitgleich zusammen mit Philipp Prinzing noch tiefer in die Air-to-Air-Fotografie ein. Beispielsweise verrät er, wie man als Fotograf mit anspruchsvollen Licht- und Wetterbedingungen umgeht.
Die Aviators Farm in Hildesheim
Die Hildesheimer Aviators Farm bietet die ideale Kulisse für das Event. Sie ist Heimat fliegender Schätze wie etwa Tassilo Bodes Beech Staggerwing, Boeing Stearman oder Philipp Prinzings Stinson L-5. In einem Nebenraum des Hangars hat sich Gastgeber Thomas Schüttoff mit seiner Bibliothek einen Lebenstraum verwirklicht – ein magisch anmutender Ort, an dem Luftfahrtgeschichte zum Leben erwacht. Unendlich viele liebevoll gestaltete Details und die Ernst Udet gewidmete Flamingo-Bar laden zum Verweilen ein. Schade, dass die Erzählungen des Gastgebers viel zu schnell enden – doch der Unterricht ruft. Nebenan entführt der Kinosaal in die goldene Ära der Filmgeschichte und bietet erstmals eine Bühne für den Vortrag über Air-to-Air-Fotografie.
Flugzeuge am Boden...
Auf dem Rasen zwischen Aviators Farm und Fallschirmspringer-Domizil ist am Samstagnachmittag alles für stilvolle Bodenfotos angerichtet. Stinson, Staggerwing, Mustang, Cessna Bird Dog und ein Willys Jeep entführen die Fotografen in vergangene Tage. Jetzt liegt es an den Teilnehmern, gemeinsam mit den Reenactors aus Hildesheim – eine sympathische Truppe flugbegeisterter Darsteller, gekleidet in historische US-Uniformen – passende Szenen zu inszenieren. Beim Motorlauf der Stinson können die Fotografen das Ablichten des Propellerkreises mit beiden Füßen am Boden üben.

Foto-Action ist bei "Behind the lens" auf der Aviators Farm auch am Boden geboten.
... und in der Luft
Am Samstagabend dann das heiß ersehnte Finale. Im Anschluss ans Briefing steigen die Piloten in die Flugzeuge, dann setzt sich der Tross in Bewegung. Anspannung, Vorfreude und der Geruch von verbranntem Avgas liegen in der lauen Sommerluft. Der Elephant Walk hat begonnen. Zehn bis 15 Minuten Shooting-Zeit haben die Teams jeweils für die Niebergall-Formation und "Louisiana Kid". Genug für ein paar Vollkreise, Schräglagen, wechselndes Licht und Experimente mit verschiedenen Kameraeinstellungen.

"Smoke on!" Das Vater-Sohn-Duo Ralf und Nico Niebergall setzt sich vor der offenen Luke des Fotoflugzeugs in Pose.
Ein Hauch von Oshkosh
Für einige Teilnehmer ist es eine gänzlich neue Erfahrung, in einer solchen Extremsituation zu fotografieren, andere kennen es bereits. Der Faszination, der Mustang und der Niebergall-Formation so nah zu sein, erliegen aber alle Beteiligten. Vor der Landung liefern Ralf und Nico Niebergall eine Airshow für all jene ab, die am Boden geblieben sind. Ein kleines bisschen Oshkosh-Feeling macht sich über Hildesheim breit. Applaus ertönt, als die beiden an der Parkposition aussteigen, insbesondere für Nico, der an diesem Samstag seinen 30. Geburtstag feiert. Nach dem Barbecue, als sich die Sonne hinterm Horizont versteckt, erwacht "Louisiana Kid" noch einmal zum Leben. Beim "Nightrun" setzen LED-Strahler das Flugzeug kurz vor Mitternacht in Szene. Ein Motiv, das es nicht alle Tage gibt.

Das finale Auswerten der Fotos ist noch immer begleitet vom zuvor am Himmel erlebten Endorphin-Sturm.
Der Lohn der Mühen
Standen die Fotografen bei der abendlichen Air-to-Air-Mission vor der Herausforderung, das Restlicht zu nutzen, so muss sich die zweite Gruppe am nächsten Tag mit dem um kurz vor 10 Uhr schon recht harten Morgenlicht arrangieren. Wie gut beides gelungen ist, zeigt die Auswertung der Fotos im Kinosaal: "Ihr habt alle top Ergebnisse abgeliefert", lobt Philipp Prinzing. Beachtlich ist vor allem die Vielfalt der Motive, denn jeder Fotograf hat es geschafft, seine Handschrift auf den Sensor zu bannen. Hier und da gibt es freundschaftliche Manöverkritik und Tipps für die Zukunft, aber stolz auf das Erreichte können alle sein. Ein Teilnehmer hat seinen ganz eigenen Ansatz gefunden: "Man muss gar nicht alles fotografieren", sagt er, immer noch ergriffen von den Eindrücken in der Luft. Er hat die Kamera für einen langen Augenblick zur Seite gelegt und einfach nur den Anblick der Mustang für sich allein genossen – dabei sollen sogar ein paar Freudentränen geflossen sein.
Blut geleckt? Der Termin fürs nächste Jahr steht bereits fest: Am 21. und 22. Juni 2025, an den längsten Tagen des Jahres, wird die Aviators Farm wieder zum Schauplatz von "Behind the Lens".