Der Vorfall selbst liegt anderthalb Jahre zurück, doch die Ermittlungen laufen immer noch auf Hochtouren: Im September 2020 ging eine mit zwei Mann besetzte Suchoi Su-30SM über der Region Twer, 170 Kilometer nordwestlich von Moskau, durch Absturz verloren. Beide Piloten konnten sich per Schleudersitz retten. Ihr Trainingsflug endete damit zwar abrupt und unplanmäßig, aber immerhin glimpflich. Was die Absturzursache angeht, schwelte bereits damals ein böser Verdacht. Am 23. September 2020 meldete die staatliche Nachrichtenagentur Tass: "Die in der Nähe von Twer abgestürzte Su-30 könnte während der Übungen versehentlich von einem anderen Flugzeug abgeschossen worden sein."

"Sorglosigkeit und Arroganz"
Inzwischen lieferten die Ergebnisse der mit dem Crash betrauten Unfallermittler offiziell Gewissheit: Die Su-30SM wurde im Flug tatsächlich irrtümlich getroffen – von der Kanonensalve einer Su-35S. Seitdem drehen sich die Ermittlungen in Russland vor allem um eins: die Schuldfrage. Und die ist nach wie vor nicht eindeutig geklärt, wie ein aktueller Artikel der Zeitung Kommersant nahelegt. Zwar ist laut Unfallbericht inzwischen klar, dass der Pilot der Su-35S bewusst und willentlich auf die Su-30 feuerte. Mit "Sorglosigkeit und Arroganz" habe er bei der Luftkampfübung sein Ziel aufs Korn genommen, ohne zuvor im Cockpit auf "simuliertes Schießen" umzuschalten. Weil er damit nicht nur die Gesundheit seiner Kameraden aufs Spiel gesetzt, sondern zugleich die Kampfbereitschaft der Armee untergraben und damit auch "dem Land geschadet" habe, steht der 34-jährige Major nun vor Gericht.

Auch Bodenpersonal soll sich verantworten
Allerdings ließ der Pilot während der Verhandlung über seinen Anwalt verlauten, dass er sich "im vollen Vertrauen darauf" in den Luftkampf begab, "dass alle scharfen Waffen aus seinem Kampfjet entfernt und seine Geschütze deaktiviert waren". Schließlich sei es im Vorfeld derartiger Trainigsflüge üblich, dass die Techniker am Boden die Flugzeuge entsprechend präparierten. Offensichtlich taten die beiden mit der Su-35S betrauten Männer dies nicht, weshalb auch gegen sie zunächst wegen Fahrlässigkeit ermittelt wurde. Dass diese Ermittlungen später eingestellt wurden, bezeichnete die Staatsanwaltschaft inzwischen, nach den Eingebungen der Verteidigung, als "Ermittlungsfehler".
Selbstverständlich habe der Pilot "gegen die Regeln" verstoßen, aber, so die Sicht der Staatsanwaltschaft, "Vertreter der Bodendienste, die die Su-35 für die Übung vorbereitet hatten, sollen die Verantwortung für den Vorfall mit ihm teilen." Der zuständige Richter sieht dies offenbar ähnlich und ordnete eine Prüfung an: "Die Hauptdirektion für militärische Ermittlungen des russischen Ermittlungskomitees wurde mit der Aufgabe betraut, die Fehler bei den Ermittlungen in der Garnison zu korrigieren", schreibt Kommersant.
Urteil Ende März?
Wie der Anwalt das Su-35S-Piloten weiter ausführte, habe sein Mandant direkt im Vorfeld des "friendly fire"-Zwischenfalls bereits einen simulierten Raketenangriff auf ein fliegendes Ziel vollführt. Dieser sei "recht gut" verlaufen, "was was dem Major zusätzliches Vertrauen in die Sicherheit seiner Aktionen gab", so Kommersant weiter. Die von der Aufsichtsbehörde eingeleitete "Aufteilung der Verantwortung" auf drei möglicherweise an dem Vorfall beteiligte Soldaten sehe daher auch der Verteidiger als "durchaus gerechtfertigt" an. Ende März soll das Gericht den überprüften Fall erneut zugewiesen bekommen – und ein Urteil darüber fällen, wer und wie viele Personen die Verantwortung dafür tragen, dass die russische Luftwaffe an diesem Tag "ein Kampfflugzeug im Wert von 1,14 Milliarden Rubel" (rund 13 Millionen Euro) in einem Wald bei Twer verlor.