Mit mehreren Testflügen Ende Mai sowie am 19. Juni meldete sich die Iljuschin Il-96-400M – anderthalb Jahre nach ihrem Jungfernflug am 1. November 2023 – am Himmel über Russland zurück. Der große Vierstrahler mit dem Kennzeichen RA-96115, der sich über Jahre hinweg im Schneckentempo durch die Endmontage gequält hatte, erreichte dabei laut Daten der Tracking-App Flightradar24 Flughöhen von bis zu 9.000 Metern und – wenn auch nur kurzzeitig – eine Geschwindigkeit von 797 km/h. Es waren mutmaßlich die ersten Testflüge der Il-96-400M seit dem Erstflug. Zumindest die ersten, die sich öffentlich nachverfolgen ließen.
Der mit vier PS-90A1-Turbofans ausgestattete Prototyp ist eine gestreckte, modernere Version der in den 1980er-Jahren entwickelten Il-96-300, von der im WASO-Flugzeugwerk in Woronesch bis jetzt etwa 30 Stück gebaut wurden. Die meisten davon entstanden für die VIP-Spezialflugstaffel der russischen Regierung. Zwei jahrelang eingemottete Frachter des Typs Il-96-400T sind im Zuge der "Russifizierung" der russischen Luftfahrt seit 2023 wieder auferstanden. Sie fliegen seither für Sky Gates Airlines, die früher mit Boeing 747-400-Frachtern unterwegs war. Im kommerziellen Passagierverkehr Russlands findet die Il-96 schon seit gut einem Jahrzehnt nicht mehr statt – und auch weltweit besitzt einzig Kubas staatliche Airline Cubana noch ein – mehr oder minder – aktives Exemplar.
Vierstrahler ohne echte Perspektive
Genau hier beginnt die Debatte darüber, ob eine neue Version des Großraumjets, namentlich in Gestalt der Il-96-400M, in den Zukunftsplänen der russischen Verkehrsfliegerei überhaupt eine Zukunft haben kann – und wenn ja, wie diese denn aussehen soll. Bestellungen oder auch nur Absichtserklärungen für das Flugzeug sind zwar weit und breit nicht auszumachen. Flag Carrier Aeroflot sagte Ende 2023 sogar ausdrücklich "njet" zu einer Order für die Il-96-400M. Dennoch wollen einflussreiche Kreise in der russischen Regierung die untote Iljuschin, deren Wurzeln noch in der Sowjetunion liegen, einfach nicht sterben lassen. So betonte Russlands derzeitiger Industrie- und Handelsminister Anton Alichanow jüngst beim Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg, "die Passagiermaschine Il-96-400M" werde die Reihe "ziviler Flugzeuge im Segment der Großraum-Passagierflugzeuge ergänzen und es dem Markt ermöglichen, neben der MS-21-310, der SJ-100 und der Tu-214 Flugzeuge unterschiedlicher Größe und Reichweite anzubieten, die in der Lage sind, ein landesweites Streckennetz bereitzustellen und ausländische Pendants zu ersetzen." Gleichzeitig könne die Il-96-400M in Russland die Basis bieten für "die Entwicklung eines Großraumflugzeugs der neuen Generation."
Eine zweistrahlige Il-96neo?
Mit diesem Ansatz bewegt sich Alichanow in den Fußstapfen seines Vorgängers im Ministeramt, dem heutigen Vize-Ministerpräsidenten Denis Manturow. Dieser kündigte Ende 2023 an, die Il-96-400M könne vorerst für den Frachttransport gebaut werden, solle aber perspektivisch auch als Passagierjet abheben. Dabei erwähnte Manturow – zum wiederholten Mal – die Option, den Widebody mithilfe des in der Entwicklung befindlichen Groß-Turbofans PD-35 zum Zweistrahler umzubauen. Tatsächlich prüft der russische Staatskonzern Rostec, einem Bericht der Webseite topwar.ru zufolge, gegenwärtig "die Entwicklung eines zweimotorigen, sparsameren Großraumflugzeugs Il-96 mit neuen russischen PD-35-Triebwerken."
Ganz so trivial aber ist der Bau einer solchen, zweistrahligen "Il-96neo" nicht. Neben jeder Menge Modifikationen in der Peripherie bräuchte die Iljuschin wohl einen komplett neuen Flügel, inklusive Flügelmittelkasten. Hier scheint man in Russland eine Kohlefaserlösung zu bevorzugen, ähnlich der Tragflächen des A320-Pendants Jakowlew MS-21-310. Und selbst dabei wird es wahrscheinlich nicht bleiben, wenn man technisch wirklich auf der Höhe der Zeit sein möchte – zumal eine zweistrahlige Il-96 frühestens um 2030 realisierbar wäre, weil das notwendige PD-35-Triebwerk nicht früher zu haben ist. Kritiker sprechen bereits von der Il-96-400M als einem "Frankenstein-Flugzeug". Die Frage, die sich angesichts des damit verbundenen Aufwands aber tatsächlich stellt: Wäre es nicht zielführender, die Il-96 endlich ad acta zu legen und komplett von vorn anzufangen?

Könnte die Il-96 eine Reinkarnation als Zweistrahler erfahren? Mancher in Russland wünscht es sich. Kritiker dagegen lehnen das "Frankenstein-Flugzeug" ab.
Ein neues, zeitgemäßes Flugzeug
Genau das dürfte auch Aeroflot-Chef Sergej Alexandrowski gemeint haben, als er Ende 2023 im Gespräch mit der Zeitung Wedemosti sagte, es sei "irrational, veraltete Technologie in ein kommerziell ineffektives Flugzeug zu integrieren." Außerdem sei die Industrie in Russland nicht in der Lage, die Il-96-400M "in den erforderlichen Mengen zu produzieren", und das Hochfahren der Produktionsmengen auf ein taugliches Niveau sei schlicht "zu teuer". Was Aeroflot stattdessen brauche, sei "ein neues zweimotoriges Flugzeug mit fortschrittlicher Technologie und guter Treibstoffeffizienz", so Alexandrowski.
Basis CRAIC CR929
Die Grundlagen für ein solches Unterfangen, das – richtig aufgezogen – bis 2030 vielleicht ebenfalls realisierbar wäre, hat Russland, gemeinsam mit China, eigentlich schon geschaffen. Das sino-russische Projekt CRAIC CR929 sollte genau das verkörpern, was Aeroflot-Chef Alexandrowski vorschwebt: Ein hochmodernes, zweistrahliges Langstreckenflugzeug à la Airbus A350 und Boeing 787 – nicht zusammengepuzzelt mit Bausteinen aus der Vergangenheit, sondern von Grund auf neu entwickelt. Zwar stieg Russland, nicht ganz freiwillig, im Zuge des Ukraine-Krieges aus dem Joint-Venture aus und China versucht seitdem, das jetzt C929 genannte Flugzeug zur Serienreife zu entwickeln. Da das Gros der Design- und Konstruktionsarbeiten für den Riesen-Twin jedoch in den Händen russischer Ingenieure lag, könnten die gesammelten Erkenntnisse auch in Russland die Basis für eine tragfähige Eigenentwicklung bieten. Und weil das PD-35 ohnehin nicht vor 2030 serienreif sein wird, hätte man für das Flugzeug selbst ein wenig Zeit.