Eigentlich war das alles ganz anders geplant. Zum Premium-Carrier sollte Russlands Flag Carrier umgebaut werden – zu einer Airline, die nur mit modernen Airbus-Jets unterwegs ist. Die Tochter Rossiya hingegen sollte mit den russischen Mustern Superjet und MS-21 vorrangig Inlandsziele bedienen. Doch mit dem Krieg und der Ukraine und den daraufhin verschärften Sanktionen des Westens gegen Russland ist diese Zukunftsvision Geschichte. Zwar kann Aeroflot die, großteils geleasten, Airliner westlicher Herkunft trotz Ersatzteil-Embargo und weiterer Schikanen noch eine Weile weiterbetreiben. An die Auslieferung neuer Jets jedoch ist auf absehbare Zeit nicht zu denken.
Kommt die Mega-Order?
In Russlands ziviler Luftfahrt zieht man daraus zwangsläufig Konsequenzen – und zwar auf mehreren Ebenen. Laufende Projekte werden im Eiltempo "russifiziert", totgeglaubte Zombies wie die Tupolew Tu-214 kommen aus der Versenkung zurück. Und die Aeroflot-Gruppe will, nach Informationen der russischen Zeitung "Vedemosti", schon kommende Woche eine Riesenbestellung über mindestens 300 neue Passagierflugzeuge aus russischer Produktion aufgeben. Die Order soll sich auf die drei Muster Superjet New (mit russischem PD-8-Triebwerk), MS-21-310 (mit PD-14) sowie Tu-214 konzentrieren. Langstreckenjets wie die vierstrahlige Iljuschin Il-96-400M scheinen nicht darunter.

Frisches Geld für neue Jets
Bereits 2020 hatte der Aeroflot-Konzern für seine Strategie bis 2028 mit insgesamt 235 neuen Airlinern aus Russland kalkuliert, die allesamt bei Rossiya fliegen sollten. Die Tu-214 war damals nicht mit dabei, es ging um 170 Superjets und 75 MS-21. Ob diese Flugzeuge in der nun geplanten Bestellung inkludiert sind, oder ob die 300 Jets noch obendrauf kommen sollen, ist bisher nicht bekannt. Klar ist nur, dass auch die Kern-Airline Aeroflot selbst entgegen der alten Pläne wieder auf russisches Gerät setzen wird – ob sie will oder nicht. Finanziert wird der Flottenumbau mutmaßlich durch frisches Kapital vom Staat.

Russlands Flugzeugbau-Kapazitäten
Allerdings stellt sich die Frage, wie Russlands Luftfahrtindustrie diese Großbestellung – sollte sie denn wirklich kommen – zeitnah bedienen will. Schließlich werden die russischen Flugzeugwerke Superjets, MS-21 und Tu-214 auch langfristig nicht beliebig aus dem Ärmel schütteln können. Selbst dann nicht, wenn man optimistisch annimmt, dass die Importsubstitution bei den beiden erstgenannten Mustern planmäßig voranschreitet, der erste "Superjet New" im kommenden Jahr und die erste rein russische MS-21 2024 abhebt.
Beim Staatskonzern Rostec sieht man die Angelegenheit naturgemäß optimistisch. Bis 2025 werde man 110 neue Flugzeuge bauen, erklärte Geschäftsführer Sergej Tschemesow unlängst, wobei er dabei neben MS-21, Tu-214 und Superjet auch das Turboprop-Muster Il-114-300 erwähnte. Bis 2030 sollen dann insgesamt schon 500 neue russische Airliner die Werkshallen verlassen haben. Etwas konkreter wurde Anfang Juni Juri Sljusar, Chef der Flugzeugbau-Holding und Rostec-Tochter UAC: Demnach liegt das Produktionsziel für die MS-21-310 ab 2025 bei 36 Flugzeugen pro Jahr. Ab 2026 sind dann jährlich 72 neue Exemplare geplant. Die Rate für den Superjet New soll von zunächst 20 auf langfristig 150 Exemplare pro Jahr hochgefahren werden. Für die Tu-214, die derzeit in homöopathischer Zahl weiter fürs Militär gebaut wird, plant man eine Steigerung auf jährlich zehn Flugzeuge ab dem kommenden Jahr. So könnten bis 2030 insgesamt 70 neue Tu-214 entstehen.

Chefsache
Der Luftfahrt-Analyst Oleg Pantelejew, Direktor der Industrieagentur Aviaport, klingt in seiner Stellungnahme gegenüber "Vedemosti" etwas zurückhaltender. Es habe bereits elf Jahre gedauert, um die 150 Superjets in Betrieb zu nehmen, die heute im Dienst stünden, so der Experte. Bei drei Typen auf einmal müsse das Auslieferungstempo "merklich höher" sein. Außer Aeroflot haben allerdings auch andere russische Airlines Bestellungen für MS-21 und Superjet aufgegeben. So liegen für Erstere offiziell 175 Aufträge vor, darunter 50 von der Aeroflot-Gruppe. Dennoch werde UAC den Auftrag zur Chefsache erklären und "definitiv" erfüllen, erklärte Pantelejew weiter. Es fragt sich eben nur, bis wann.