Es wirkt irgendwie verzweifelt – und realitätsfern noch dazu: Gerade sind die jüngst vom Westen gegen Russland verhängten Sanktionen drauf und dran, das ganze Land, und mit ihm die heimische Luftfahrt, in ungeahnte Nöte zu stürzen, da trifft sich Wladimir Putin mit Pilotinnen und Stewardessen der Staats-Airline Aeroflot zum Tee und stimmt ein Loblied auf die Irkut MS-21 an. Der heimische Airliner sei westlichen Pendants nicht nur ebenbürtig, sondern habe "in vielen Parametern" gar die Nase vorn, so Putin bei dem Treffen laut Angaben der Nachrichtenagentur Tass. Schließlich sei seine Kabine breiter, die Sitze seien bequemer und das Flugzeug allgemein absolut konkurrenzfähig. Auch bereits vor Jahren in Kraft getretene Handelsbeschränkungen hätten den Abschluss des Projekts nicht verhindert, unterstrich der Präsident. Was wohl so viel heißen sollte wie: Wir bekommen das Flugzeug auch im Alleingang zur Serienreife – ohne Zulieferer aus dem Westen.





MS-21 steht nicht zur Verfügung
Für die Aeroflot-Angestellten, mit denen Putin Tee trank, dürften die Worte ihres Staatsoberhaupts ein eher schwacher Trost gewesen sein. Denn zwar hat Putin rein technisch betrachtet durchaus Recht: der Irkut-Jet muss Vergleiche mit den Konkurrenten von Boeing oder Airbus keineswegs fürchten. Das Problem ist nur, dass dies für den Moment – und auf absehbare Zeit – in der Praxis völlig irrelevant ist. Denn die Flotten der großen russischen Airlines, auch und gerade bei Aeroflot, bestehen nun einmal größtenteils aus westlichen Maschinen. Die stehen – egal ob geleast oder gekauft – aber nur noch sehr beschränkt zur Verfügung, weil einerseits Beschlagnahmungen durch Leasinggeber drohen, andererseits der Support mit Ersatzteilen unterbrochen wurde. Das Grounding weiter Teile der Flotten scheint nur eine Frage der Zeit. Schon seit gestern fliegen Aeroflot und andere Airlines nicht mehr ins Ausland. Und die MS-21? Die steht noch nicht einmal im Dienst.
Zwar ist der Serienbau des Musters im Gange, doch selbst langfristig muten die avisierten Stückzahlen, die Irkut jährlich produzieren will, sehr überschaubar an. Für 2022 sind nach jüngstem Stand gerade einmal vier Exemplare geplant. Deutlich mehr als 60 Flugzeuge im Jahr schafft das Werk in Irkutsk auch auf lange Sicht schlichtweg nicht. Zum Vergleich: Bei Airbus rollt eine vergleichbare Anzahl A320 (und A321) in nur einem Monat aus der Halle. Außerdem besitzt Aeroflot an die 100 A320 und A321, dazu drei Dutzend Boeing 737. Im Flottenregister der Tochter Rossija stehen 18 A319, acht A320 und zwölf 737. Von weiteren Tochtergesellschaften wie dem Lowcost-Carrier Pobeda, der ausschließlich Boeing 737 nutzt, gar nicht zu reden.
Eine Aeroflot-Pilotin entgegnete Putin nach Tass-Angaben deshalb folgerichtig, die MS-21 sei in Bezug auf die Leistungsmerkmale westlichen Flugzeugen nicht unterlegen, aber ihre Fluggesellschaft werde nicht in der Lage sein, schnell darauf umzusteigen.

Viel Ausland im russischen Airliner
Dazu gesellt sich ein weiteres Problem, dessen Dimension durch die jüngsten Entwicklungen weiter angewachsen ist. Denn die MS-21 ist zwar ein russisches Flugzeug – doch nicht überall, wo "Russland" drauf steht, ist auch Russland drin. Stattdessen bezieht Irkut für den neuen Jet eine Vielzahl an Komponenten von westlichen Zulieferern. Immerhin stiegen die Russen aufgrund eines Kohlefaser-Embargos Ende 2018 bereits auf heimisch produzierte Verbundwerkstoff-Tragflächen um und entwickelten mit dem Awiadwigatel PD-14 auch einen neuen, einheimischen Turbofan für ihren Hoffnungsträger. Die damit ausgerüstete Variante MS-21-310 ist allerdings noch nicht zugelassen, der Serienbau des Triebwerks läuft noch auf Sparflamme – weshalb mindestens die ersten 25 Serienflugzeuge mit PW1400-Getriebefans des US-Herstellers Pratt & Whitney an den Start gehen sollten. Das wiederum scheint angesichts der nochmals stark verschärften Handelsbeschränkungen nun ausgeschlossen – ist aber nicht die einzige Baustelle dieser Art.
Denn obwohl Russlands Industrie sich seit Jahren bemüht, westliche Zulieferer durch Firmen aus Russland zu ersetzen, sitzen bei der MS-21 nach wie vor wichtige Firmen aus dem Ausland mit im Boot. So stammen große Teile der Avionik vom US-Hersteller Collins Aerospace sowie von Thales aus Frankreich und Elbit aus Israel. Collins entwickelte auch die aktiven Sidesticks, die bei der MS-21 zum ersten Mal überhaupt in einem Passagierjet zum Einsatz kommen. Ebenfalls aus den USA, und zwar von Honeywell, kommt die Hilfsgasturbine. All diese Komponenten sollen perspektivisch durch Produkte russischer Hersteller ersetzt werden. Die jedoch sind noch nicht fertig.

Abwarten und Tee trinken
Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit – führt jedoch vor Augen, dass die "Russifizierung" der MS-21 längst nicht in dem Maße vorangeschritten ist, wie man vielleicht glauben könnte. Inwiefern die einzelnen Verträge mit ausländischen Zulieferern durch die neuen Sanktionen betroffen sind, wird sich vermutlich bald zeigen. Dem ohnehin schon strapazierten Zeitplan des Projekts dürften sie jedenfalls nicht dienlich sein.
Einen Ersatz für die Flugzeuge westlicher Hersteller verkörpert die MS-21 für Russlands Airlines auf absehbare Zeit aber schon rein zahlenmäßig nicht – selbst wenn Putin ihre technischen Vorzüge noch so sehr hervorhebt. Für weite Teile des fliegenden Personals von Aeroflot und anderen russischen Airlines dürfte der Arbeitsalltag in den nächsten Wochen wenig Inhalt bieten – außer Teetrinken, versteht sich.