Komplett unlackiert, im knallgelben Grundanstrich rollte die frisch vollendete RA-64536 am 16. Dezember im verschneiten Kasan in der russischen Teilrepublik Tatarstan auf die Startbahn. Wenig später hob sie ab, zu ihrem einstündigen Jungfernflug. Tags darauf flog sie erneut – diesmal direkt zum Flughafen Minsk in Belarus, wo sie ihr zukünftiges Farbkleid erhält.
RA-64536 ist eine Tupolew Tu-214 – die erste, die in Kasan im ablaufenden Jahr vollendet wurde, und laut russischen Berichten auch die erste Tu-214 überhaupt, deren Bau nach 2022 startete und die vollständig ohne ausländische Komponenten produziert wurde. Zwar war in Kasan mit der Schwestermaschine RA-64535 bereits 2024 eine neue Tu-214 aus der Halle gerollt. Bei diesem Exemplar aber hatte man noch vereinzelt Importteile verwenden müssen. Namentlich dürfte es dabei zum Beispiel um die Kollisionswarnsysteme im Cockpit, die Notrutschen sowie einige weitere Sicherheits- und Kabinensysteme gegangen sein, die Russland für die Airliner-Baureihe Tu-204/214 seit jeher nicht selber produziert hatte.
Dem Vernehmen nach ersetzten die Verantwortlichen insgesamt 45 Komponenten, die zuvor nichtrussischer Herkunft waren. Der Startschuss für den Bau der RA-64535 soll überdies bereits 2019 in Kasan erfolgt sein, wie die Zeitung Business Gazeta schreibt – ohne konkreten Auftrag.
Die Tupolew Tu-214 RA-64536 beim Start zum Erstflug am 16. Dezember 2025. Das Flugzeug wurde tags darauf nach Minsk zum Lackieren überführt.
Zwei Tu-214, beides Businessjets
Gewöhnliche Fluggäste werden jedoch weder die 2024 noch die 2025 gebaute, rein russische Tu-214 von innen sehen. Denn sowohl die RA-64535 als auch die RA-64536 sind nicht für den kommerziellen Flugverkehr gedacht.
Stattdessen erhielt die 2024er Tupolew eine VIP-Kabine und einen edel anmutenden Anstrich. Formell gehört sie zwar zur Flotte der Fluggesellschaft Red Wings, in der Praxis jedoch fliegt sie einzig und exklusiv für Russlands Industrie- und Handelsministerium. Der Zusammenhang ist einfach: Red Wings Airlines gehört seit 2023 zum "Imperium" des russischen Staatskonzerns Rostec. Die RA-64535 war am 27. Dezember des vergangenen Jahres erstmals geflogen, die Auslieferung erfolgte im April 2025.
RA-64536, die erste von Grund auf neu entstandene Tu-214 seit Russlands Angriff auf die Ukraine im Februar 2022, hätte eigentlich an die in Kasan beheimatete Airline UVT Aero gehen sollen. Stattdessen aber rückt nun das Moskauer Versicherungsunternehmen Sogas an die Stelle des Abnehmers – und auch Sogas wird den Zweistrahler als Businessjet mit VIP-Kabine betreiben.
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Ärger wegen Lieferschwierigkeiten
Warum entgegen vorheriger Pläne nicht UVT Aero als "Launch Customer" für die erste vollständig russische Tu-214 fungiert, ist klar: Die Führung der Airline hatte von den wiederholten Lieferverzögerungen im benachbarten Flugzeugwerk die Nase letztlich so gestrichen voll, dass sie die zuvor getätigte Bestellung über vier Tu-214 auf Eis legte, das Management des Produktionswerks vor Gericht auf Schadenersatz verklagte und in zwei Verfahren eine Kompensationszahlung von insgesamt 7,2 Milliarden Rubel (etwa 76,6 Millionen Euro) zugesprochen bekam.
Nicht ganz klar ist, ob UVT Aero ihre Order tatsächlich komplett storniert hat. Einige Quellen sind der Ansicht, der Carrier werde 2026 seine ersten Tu-214 erhalten. Andere führen dagegen an, dass in der Kundenliste zunächst andere Auftragnehmer Priorität haben – allen voran soll SLO Rossija, die Spezialflugabteilung der russischen Regierung, eine ungenannte Zahl neuer Tu-214 erwarten. Laut dem Branchenportal CH Aviation soll UVT Aero sich jüngst überdies für die Beschaffung von Iljuschin Il-114-300 und Jakowlew Superjet SJ-100 – und gegen die Tu-214 – entschieden haben.
Produktionsplan für die Tonne
Den großen Plan aus dem Kreml vom Sommer 2022, nachdem in Kasan bis Ende 2030 insgesamt 70 Tu-214 produziert werden sollten, haben die Russen in jedem Fall schon längst in den Papierkorb geworfen. Demzufolge hätte das Flugzeugwerk schon 2023 drei, 2024 sieben und 2025 zehn neue Tupolew-Zweistrahler herstellen müssen. Stattdessen aber gab es 2023 null und 2024 sowie 2025 nur jeweils eine neue Tu-214.
Laut der Datenbank russianplanes.net sind derzeit in Kasan zwar 15 Tu-214 in Produktion. Dass der Ausstoß neuer Jets 2026 plötzlich in den zweistelligen Bereich hochschnellt oder sich diesem auch nur annähert, scheint trotzdem nicht besonders realistisch. Insidern zufolge rechnet selbst die Direktion des Flugzeugwerks mit maximal fünf neuen Tu-214 im kommenden Jahr – wenn ausnahmsweise alles glattläuft.
Vermutlich wird aus diesem Grund einfach abermals der Plan nach unten angepasst.
