Technik pur - Das sind die Tragflächen der nächsten Airliner-Generation

Tragende Kraft für neue Verkehrsflugzeuge
So sehen die Tragflächen der Zukunft aus

Veröffentlicht am 26.04.2025

Ohne Flügel kein Flugzeug. Tragflächen sorgen für den nötigen Auftrieb, damit auch ein Koloss wie der Airbus A380 mit seiner maximalen Startmasse von 569 Tonnen elegant abheben kann. Die grundlegenden Profilformen haben sich dabei seit den 1930er-Jahren, als die NASA-Vorläuferorganisation NACA verschiedene Profile und Krümmungen untersucht hat, nur wenig verändert. Und auch heute noch bestehen Flügel aus Holmen, Rippen und Beplankung, unabhängig davon, aus welchem Material sie hergestellt werden. Hinzukommen Klappen, Vorflügel und Querruder, um das Flugzeug zu steuern und an verschiedene Flugzustände anzupassen. Dennoch wurden Tragflächen im Lauf der Zeit weiterentwickelt, vor allem, was Werkstoffe und Fertigungsverfahren angeht. Und Ingenieure und Forscher arbeiten weiter daran, Flügel zu verbessern. Ein vielversprechender Weg ist es, die Streckung zu erhöhen.

 Ingenieur installiert das Transonic-Tragflügelmodell mit Verstrebung im 14x22-Windkanal für Tests
NASA Langley Research Center/David C. Bowman

Technisch anspruchsvoll

Die Streckung ist ein Maß für die Schlankheit des Flügels. Eine hohe Streckung trägt zu einer Verringerung des induzierten Widerstands im Reiselflug bei, was den Treibstoffverbrauch reduziert. Flügel mit hoher Streckung sind jedoch in der praktischen Umsetzung herausfordernd. Eine geringe Flügeltiefe erschwert die Integration des Hochauftriebssystems, auch Fahrwerke und Tanks finden darin nicht so einfach Platz. Nach Angaben des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) sind hochgestreckte Flügel weich in Biegung und Torsion, was die Ruderwirksamkeit bei hohen Fluggeschwindigkeiten reduziert und die Flugmechanik beeinflusst. Einschränkungen drohen auch beim nutzbaren Geschwindigkeitsbereich, weil die Flattergeschwindigkeit sinkt. Nicht zuletzt nimmt mit der Spannweite das Gewicht zu. Auch die auftretenden Kräfte müssen reduziert werden, beispielsweise durch aktive Lastkontrollsysteme, welche die Steuerflächen zur Verringerung von Böen- oder Manöverlasten nutzen. Alternativ untersucht das DLR auch die Möglichkeit einer passiven Lastkontrolle durch einen speziell optimierten, unkonventionellen Lagenaufbau von Kohlefasern.

Boeing-787-Rumpf im Prüfstand bei Flügel-Strukturtests
Boeing

Wunderwerkstoff CFK

Längere und schmalere Flügel sind überhaupt erst möglich durch die Verwendung von leichten und festen kohlefaserverstärkten Kunststoffen (CFK). Flügel moderner Langstreckenflugzeuge wie Boeing 787, Boeing 777X und Airbus A350 bestehen schon heute zu einem Großteil aus CFK. Lediglich die Flügelvorderkante ist aus einer Aluminiumlegierung. Metallflügel kommen aufgrund der einfacheren und automatisierten Fertigung vor allem bei Großserien-Standardrumpfflugzeugen wie A320 und Boeing 737 zum Einsatz. Doch die Flugzeughersteller arbeiten daran, neben Großraumjets auch künftige Standardrumpfflugzeuge mit faserverstärkten Kunststoffflügeln auszustatten. Airbus beschäftigt sich seit mehr als einem Jahrzehnt im Rahmen verschiedener Projekte innerhalb des Unternehmens mit dem Thema Tragflächen.

Beim "Wing of Tomorrow" (WoT) untersucht der europäische Flugzeughersteller seit 2016 neue Herstellungs- und Montagetechnologien für kostengünstige und leichte Composite-Flügel, die den hohen Raten der A320-Familie und eines Nachfolgers entgegenkommen. Zum Projekt WoT gehören drei 17 Meter lange, originalgroße Flügelprototypen: ein statischer Demonstrator für Strukturtests, ein vollausgestatteter Flügel, um neue, beispielsweise elektrische Installationstechnologien und Ansätze zur Ausrüstung mit Systemen zu untersuchen, sowie ein sogenannter Run-at-rate-Demonstrator, mit dessen Hilfe die industrielle Fertigung und Automatisierung erprobt wird. "In unserer Testanlage in Filton befinden wir uns derzeit in der Testphase des statischen Demonstrators, die das ganze Jahr über andauern wird", sagte eine Airbus-Sprecherin auf Anfrage der FLUG REVUE. Die Tests mit dem vollausgestatteten Demonstrator sollen dieses Jahr abgeschlossen werden. Die Ingenieure hätten bereits Möglichkeiten zur Verbesserung der Modularität für eine effizientere Installation der Flügelausrüstung ermittelt. Der Run-at-rate-Demonstrator wird derzeit gebaut. Es sei wichtig, schon jetzt Engpässe zu erkennen und zu verstehen, wie ein neuer Fertigungsprozess in einem Technologieprogramm funktionieren würde.

Rendering einer Cessna Citation VII mit eXtra Performance Wings von Airbus
Airbus

Albatros als Vorbild

Ergänzend untersucht Airbus auch klappbare Flügelspitzen. Das würde eine größere Spannweite ermöglichen, während die bisherigen Gates an Flughäfen genutzt werden könnten – ähnlich wie bei der Boeing 777X. Aber warum sollten klappbare Flügelspitzen nur am Boden dienlich sein? Airbus testete 2019 und 2020 erfolgreich halb-aeroelastische, klappbare Flügelspitzen im Flug mit dem kleinen unbemannten AlbatrossONE-Modell. Als Inspiration diente nach Airbus-Angaben der Albatros, der seine Flügel an der Schulter "verriegeln" kann, um lange Strecken möglichst ermüdungsfrei zurückzulegen. Bei Böen "entriegelt" der Seevogel seine Schulter, um die Veränderung der Windgeschwindigkeit besser zu handhaben. Klappbare Flügelspitzen bieten auch Flugzeugen den Vorteil, dass sie im Fall von Böen frei beweglich sind und das Biegemoment der Tragfläche nicht erhöhen. Bei den halb-aeroelastischen, klappbaren Flügelspitzen geht Airbus nun den nächsten Schritt.

Im Rahmen des Projekts "eXtra Performance Wing" wird derzeit im französischen Cazeaux eine Cessna Citation VII mit neuen Flügeln ausgestattet, die sich dynamisch an unterschiedliche Flugzustände anpassen. "Der in der Entwicklung befindliche Flügel hat eine hohe Streckung für kommerzielle Kurz- und Mittelstreckenflugzeuge und ist zu 30 Prozent skaliert", erklärtedie Airbus-Sprecherin. An der Flugzeugnase werden Böensensoren installiert, die bei Turbulenzen Signale an die Steuerflächen der Flügel auslösen. Die klappbaren Flügelspitzen können sowohl am Boden als auch in der Luft genutzt werden. "Wir sind gerade dabei, den eXtra-Performance-Flügeln den letzten Schliff zu verpassen, bevor sie Filton verlassen und im Laufe des Jahres am Flugzeug montiert werden", so die Airbus-Sprecherin. Die Citation soll 2026 erstmals mit den neuen Flügeln abheben – ferngesteuert vom Boden aus. Klappbare Flügelspitzen könnten dem nächsten Airbus-Standardrumpfflugzeug laut Airbus eine gigantische Spannweite von mehr als 50 Metern verleihen. Zum Vergleich: Die Spannweite der A320 beträgt 35,8 Meter.

Daneben erforscht Airbus zusammen mit Partnern aus Industrie und Wissenschaft neuartige Flügelkonzepte mit hoher Streckung im Rahmen des EU-Programms Clean Aviation. Im Projekt UP Wing (UltraPerformance Wing), das von Airbus Operations in Hamburg geleitet wird, entwickeln 28 Unternehmen, Hochschulen und Forschungseinrichtungen seit Anfang 2023 dreieinhalb Jahre lang Schlüsseltechnologien für Tragflächen von künftigen Kurz- und Mittelstreckenflugzeugen bis zum Technologiereifegrad 4 (von 9). Dabei geht es sowohl um Tragflächen mit hoher Streckung mit integrierten Tanks und ausgelegt für Turbofan-Triebwerke als auch um trockene Flügel (ohne Tanks) für wasserstoffverbrennende Open-Rotor-Antriebe mit großem Bläserdurchmesser. Ein "nasser" Flügel könnte die Effizienz eines Flugzeugs um bis zu 13 Prozent erhöhen, ein "trockener" Flügel sogar um bis zu 17 Prozent. Zusammen mit weiteren Verbesserungen wird ein Narrowbody angepeilt, der mindestens 30 Prozent weniger Treibstoff verbraucht als eine A321neo.

 Flugzeugmodell X-66 bei Windkanaltests
Digital Still Image

Abgestrebte Flügel

Seit Anfang 2024 läuft zudem das dreijährige Clean-Aviation-Projekt AWATAR (Advanced Wing MATuration And integRation), das vom französischen Luftfahrt- und Raumfahrtforschungszentrum ONERA koordiniert wird. Im Fokus stehen abgestrebte, trockene Flügel mit sehr hoher Streckung für mögliche künftige Wasserstoffflugzeuge. Die Flügel sollen an den äußeren Bereichen laminare Strömung ermöglichen, innovative, in die Vorderkante integrierte Enteisungssysteme beinhalten und für Open-Rotor-Triebwerke geeignet sein. Geplant sind realitätsnahe Simulationen, Windkanalversuche und ein Bodendemonstrator. AWATAR hat ein integriertes Kurz- und Mittelstreckenflugzeug (250 Passagiere, 2000 NM) zum Ziel, das im Vergleich zu Flugzeugen aus dem Jahr 2020 18 Prozent weniger Blockenergie verbraucht. Neben Airbus Operations ist, wie auch bei UP Wing, der französische Luftfahrtkonzern Dassault Aviation beteiligt. Abgestrebte, gestreckte Flügel untersucht auch Boeing, und das seit bald zwei Jahrzehnten. Der sogenannte Tran-sonic Truss-Braced Wing (TTBW) nahm seinen Anfang 2008 im NASA-Boeing-Programm SUGAR (Subsonic UltraGreen Aircraft Research). Mittlerweile hat sich daraus die Boeing X-66A entwickelt, ein Experimentalflugzeug, das 2028 erstmals abheben sollte. Der Schulterdecker basiert auf einer modifizierten McDonnell Douglas MD-90. Sie erhält einen ultraschmalen Flügel mit einer Spannweite von 44,2 Metern (8,23 Meter mehr als die Boeing 737 MAX).

X-66 auf Eis gelegt

Was die genaue Streckung angeht, hält sich Boeing bedeckt. Verbreiterte Streben, die zusätzlich Auftrieb erzeugen und zur hinteren Flügelkante versetzt sind, sorgen für Stabilität des inneren Teils der Tragflächen. "Die X-66 wird keinen Treibstoff in den Tragflächen lagern. Die Tanks werden im Rumpf des Flugzeugs installiert sein", erklärte ein Boeing-Sprecher auf Nachfrage der FLUG REVUE. Das Flugzeug ist ausgelegt auf eine Reisefluggeschwindigkeit von Mach 0.8, also vergleichbar mit heutigen Narrowbody-Jets. Dabei soll die Truss-Braced-Wing-Konfiguration zusammen mit Verbesserungen des Antriebs, der Flugzeugsysteme und verwendeter Materialien den Treibstoffverbrauch und die CO2-Emissionen um 30 Prozent gegenüber modernen Standardrumpfflugzeugen senken. Allerdings will das Unternehmen nun einen anderen Weg gehen. Wie Boeing Ende April mitteilte, legt man das X-66-Programm nach Erreichen der unmittelbaren Meilensteine auf unbestimmte Zeit auf Eis. Stattdessen konzentrieren sich die Ingenieure ganz auf schmale Tragflächen, die direktere und vor allem schneller erzielbare Vorteile für künftige Verkehrsflugzeuge böten.

Gullhyver ONERA-Flugzeugmodell
Karl Schwarz

Keine klappbaren Spitzen

Im Januar hatten Boeing und die NASA noch im Ames-Forschungszentrum in Kalifornien Windkanal-Tests mit besonderem Fokus auf die Flügel der X-66A durchgeführt. Dabei kam ein von Boeing gebautes Halbmodell zum Einsatz, das unter den zu erwartenden Flugbedingungen untersucht wurde. Die dabei gewonnenen Informationen fließen in die Konstruktion des Flügels ein und sollten Daten für Flugsimulatoren liefern. Die Daten dieses und vorheriger Windkanaltests im Langley-Forschungszentrum der NASA in Hampton, Virginia, werden nun daraufhin untersucht, ob Änderungen am Entwurf nötig sind. Die X-66A sollte keine klappbaren Flügelspitzen bekommen. Sollte Boeing aber jemals einen 737-Nachfolger mit abgestrebten Flügeln bauen, wäre dieses Feature wahrscheinlich nötig, um den limitierten Platz an Flughafen-Gates und auf Rollwegen nicht zu sprengen. Die Schulterdecker-Konfiguration hätte Vorteile für künftige Triebwerke mit sehr großem Nebenstromverhältnis oder Open-Rotor-Architekturen.