A320-Notlandung in Sibirien: Der russische Weizenfeld-Airbus-Pilot wird verklagt

A320-Notlandung in Sibirien
Der russische Weizenfeld-Airbus-Pilot wird verklagt

ArtikeldatumVeröffentlicht am 04.09.2025
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Den 12. September 2023 wird Sergej Below wohl niemals vergessen. Der damals 35-jährige Linienpilot mit mehr als 8.000 Flugstunden Erfahrung kommandierte an diesem Tag den Ural Airlines-Flug 1383, der 161 Passagiere und sechs Besatzungsmitglieder am frühen Morgen von Sotschi am Schwarzen Meer nach Omsk bringen sollte. Zum Einsatz kam der Airbus A320 mit der Kennung RA-73805, Baujahr 2004. Alles auf dem Flug lief scheinbar planmäßig – bis im Landeanflug auf die Landebahn 07 des Flughafens Omsk das grüne Hydrauliksystem der A320 – eines von drei farblich benannten an Bord – seinen Dienst versagte.

Weil an diesem System nicht nur Spoiler, Vorflügel und Landklappen, sondern auch das Fahrwerk, die Automatik-Bremse und die Schubumkehr des Backbord-Triebwerks hängen, befürchteten Below und sein Copilot Eduard Semenow, dass die 2.500 Meter lange Runway in Omsk womöglich nicht für eine sichere Landung ausreicht. Nach kurzer Fehler- und Windanalyse teilten sie der Flugsicherung per Funk ihre Entscheidung mit, den Anflug abzubrechen und stattdessen den mehr als 600 Kilometer weit entfernten Flughafen Nowosibirsk-Tomaltschowo anzusteuern, wo sie sich günstigere Umstände erhofften.

Ural Airlines

Husarenstück im Hinterland

Die Landebahn in Nowosibirsk hätte mit ihren 3.600 Metern Länge auf jeden Fall gereicht. Nur: so weit kam Ural 1383 nicht. Etwa 200 Kilometer vor dem anvisierten Ziel ging der A320 das Kerosin aus – und Kapitän Below entschied sich kurzerhand, das Flugzeug nahe des sibirischen Dorfes Moskowka (Ubinskoje) auf einem riesigen, gemähten Weizenfeld zu landen.

Belows Entschluss war ein Husarenstück – mit glimpflichem Ausgang: Der Airbus setzte auf dem ungewohnten Terrain sicher auf und kam ohne Bruch zum Stehen. Alle Insassen blieben unverletzt, wenig später konnten sie über die Notrutschen aussteigen. Und Russlands Medien hatten wieder eine Heldenstory zu vermelden: Vom "Wunder im Weizenfeld" war die Rede, Below wurde öffentlich für seine Tat gefeiert.

Vom Held zum Angeklagten

Vom Heldenstatus des Piloten ist zwei Jahre später aber nicht mehr sehr viel übrig. Stattdessen flatterte dem in Sotschi ansässigen Below, der im vergangenen Jahr bei Ural Airlines entlassen wurde, nun am 1. September eine Anklageschrift der westsibirischen Verkehrsstaatsanwaltschaft ins Haus. Das meldete die russische Zeitung Rossijskaja Gaseta. Der Vorwurf lautet auf "Verstoß gegen die Verkehrssicherheitsvorschriften und den Betrieb des Luftverkehrs" gemäß Artikel 263 des russischen Strafgesetzbuchs.

Tatsächlich kommt diese Anklage für Beobachter des Falls nicht unbedingt überraschend. Schon der im November 2023 veröffentlichte, später aber wieder zurückgezogene Untersuchungsbericht der russischen Luftfahrtbehörde Rosawiazija stellte eklatante Fehler der A320-Besatzung im Umgang mit dem gemeldeten Hydraulikfehler fest. So bemerkten die Piloten offenbar nicht, dass das für die Landung in Omsk bereits ausgefahrene Fahrwerk mangels ausreichenden Drucks auf der Hydraulikleitung nicht mehr einfuhr. Aufgrund dieser Fehlbeurteilung berechneten sie den Treibstoffverbrauch für die Strecke nach Nowosibirsk falsch, der Airbus benötigte sehr viel mehr Kerosin als nötig – und schaffte es letztendlich nicht, wie von der Crew errechnet, ans Ziel.

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Umleitung "ungerechtfertigt"?

Die Entscheidung, nach Nowosibirsk auszuweichen, bezeichnete der Bericht überdies als "ungerechtfertigt". Laut Rosawiazija hätte die Bahn in Omsk für eine sichere Landung sehr wohl ausgereicht – die im Fall der A320 benötigte Landestrecke bezifferten die Beamten auf 1.856 Meter. Auch die Wetterbedingungen hätten laut der Behörde nicht gegen eine sichere Landung in Omsk gesprochen.

Das obligatorisch noch am Tag des Zwischenfalls eröffnete Strafverfahren der Verkehrsstaatsanwaltschaft lief währenddessen parallel zur Arbeit der Unfallermittler. Laut dem Artikel der Rossijskaja Gaseta wurde Pilot Sergej Below im Rahmen des Verfahrens bis zum Sommer dieses Jahres als Zeuge vernommen – bis er im weiteren Verlauf schließlich zum Beschuldigten avancierte.

Pilot als Sündenbock

Below selbst hat für diese Wendung naturgemäß wenig Verständnis – und sieht sich als Sündenbock: "Zuerst galt ich als Held, der Menschenleben gerettet hat, aber dann beschloss man im Interesse der Fluggesellschaft, mir die Schuld für alle Probleme zu geben", zitiert ihn die Rossijskaja Gaseta. Und das, "obwohl die Panne nicht meine Schuld war und bei der Notlandung weder Passagiere noch Besatzungsmitglieder zu Schaden kamen."

Tatsächlich nannte die russische Luftfahrtbehörde einen undichten Schlauch im Bereich des Stellzylinders des rechten Hauptfahrwerks als Ursache für den Hydraulikverlust. Das Leck sei "durch natürlichen Verschleiß" aufgetreten.

Ural Airlines, notgelandete A320 wird zerlegt.
Ural Airlines

Druck von der Fluggesellschaft

Below gab unterdessen zu Protokoll, er habe sich nicht nur aufgrund der ungünstigen Wetterbedingungen und der kurzen Landebahn für die Diversion nach Nowosibirsk entschieden – sondern auch aufgrund der "Anweisung der Fluggesellschaft, einen Ort anzufliegen, an dem Ural Airlines im Falle einer Störung technische Unterstützung hat." Dies wäre in Omsk nicht gegeben gewesen, in Nowosibirsk aber sehr wohl. Darüber hinaus bemängelte der erfahrene Kapitän, dass die Ermittler in ihrem Bericht nicht auf die Wartungspraxis bei Ural Airlines eingegangen seien und so die Frage vermieden hätten, warum der verschlissene Schlauch nicht vorab routinemäßig ausgetauscht wurde.

Ural Airlines, notgelandete A320 wird zerlegt.
Ural Airlines

Rückendeckung für Below

Der russische Luftfahrtexperte und -funktionär Oleg Smirnow springt auf Nachfrage der Rossijskaja Gaseta dem am Pranger stehenden Piloten zur Seite. Ihm zufolge liegt die Hauptschuld an dem Vorfall bei der Fluggesellschaft, "die ihre Piloten zwingt, ein Dokument zu unterzeichnen, in dem steht, dass Landungen nur auf Flugplätzen erfolgen dürfen, auf denen es Reparaturteams für die entsprechenden Flugzeugmodelle gibt", weil es andernfalls für die Airline zu teuer werde. Infolge dieser Anweisung und des dadurch ausgeübten Drucks "flog Below mit einem defekten Flugzeug nach Nowosibirsk", so Smirnow.

Auch der Vizechef der russischen Pilotengewerkschaft, Oleg Bulenkow, sieht die Angelegenheit längst nicht als abgeschlossen an – und erkennt in dem konkreten Fall ein generelles Problem: "Piloten sind nur das letzte Glied in der Kette von Ereignissen, die zu Flugunfällen führen. Wir sehen also, dass für Fehler in der Kette des gesamten Luftverkehrssystems (...) die Piloten bereits als Schuldige identifiziert werden." Dieser Mechanismus aber untergrabe letztlich die allgemeine Flugsicherheit, weil dadurch zur Wahrung wirtschaftlicher Interessen systemimmanente Defizite unbeleuchtet blieben. Das sei nicht nur unehrlich, sondern auch gefährlich, so Bulenkow.

"Ungereimtheiten" im Strafverfahren

Tatsächlich moniert auch der angeklagte Pilot Below, dass das Verfahren zu Flug Ural 1383 von Beginn an voller "Ungereimtheiten" gewesen sei. So sei in den Akten vermerkt, dass die Fluggesellschaft durch die Notlandung im Weizenfeld einen finanziellen Schaden von knapp 119 Millionen Rubel (1,26 Millionen Euro) erlitten habe, die diese nun von ihm persönlich einfordere. Allerdings sei diese Summe bereits von der Versicherung ersetzt worden, so Below gegenüber der Rossijskaja Gaseta. Seinen Angaben nach erhielt Ural Airlines sogar eine Versicherungsentschädigung von 1,3 Milliarden Rubel (13,8 Millionen Euro). Da die A320 später an Ort und Stelle zerlegt wurde, habe Ural außerdem Teile zur Reparatur anderer Flugzeuge verwenden können. "Somit entstand dem Unternehmen durch den Vorfall kein Schaden, sondern Gewinn", unterstreicht Below.