Der neue Flügel der 777X entspricht der vierten Generation eines weiterentwickelten 787-Flügels, seine Flügelarchitektur und die Materialauswahl gehen direkt auf den 787-Flügel zurück", beschreibt Boeings 777X-Programmvorstand Bob Feldman sein nächstes Wunderwerk. „Der Flügel der 777X wird wesentlich größer sein als der einer 777-300ER, und er liefert wesentlich mehr Auftrieb. Mit Hilfe dieses Flügels kommen wir mit weniger Triebwerksleistung aus als bei einer 777-300ER, was insgesamt bessere Leistungswerte bewirkt. Wir haben jetzt ein Jahr lang mit den Kunden beraten, wie diese das Flugzeug einsetzen wollen und wie es für sie den höchsten Nutzen erzeugt. Die endgültige Triebwerksleistung wird alle diese Kundenanforderungen erfüllen.“ Noch gibt es offiziell keinen genauen Leistungswert, aber ein Schubrating um die 444 Kilonewton gilt als möglich. Die bisherigen 777-300ERTriebwerke kommen dagegen auf bis zu 514 Kilonewton Schub.
Einziger Triebwerkslieferant für die 777X ist GE Aviation. Die beiden GE9X-Triebwerke mit Kohlefaser-Fanschaufeln sollen, so versprechen es die Boeing-Werbeprospekte, zehn Prozent weniger Kerosin verbrauchen als die Triebwerke der 777-300ER, und sie sollen selbst die Trent-XWB-97-Triebwerke des Airbus A350-1000 beim spezifischen Kraftstoffverbrauch noch um fünf Prozent unterbieten. Außerdem sind die neuen Triebwerke extrem leise und erfüllen den Londoner Lärmstandard QC 0.5, so dass dort auch Nachtbetrieb zulässig ist. Im Vergleich zur Boeing 777-300ER rücken die beiden Triebwerke der 777X leicht nach außen. Wenn man Pläne einer Boeing 777X und eines Airbus A380 übereinander legt, hängen die beiden Triebwerke der 777X aber immer noch komplett innerhalb der inneren Triebwerkspaare der vierstrahligen A380.
Nach dem 777X-Programmstart im November 2013 will Boeing im Jahr 2014 die grundlegenden Konstruktionsmerkmale festlegen, 2015 die Konfiguration endgültig festschreiben, ab 2016 die Detailkonstruktion durchführen und 2017 mit dem Bau beginnen. Die Flugerprobung ist für 2019 vorgesehen, die Zulassung und Auslieferung für 2020. Ein dichter Zeitplan.
Im Dezember 2013 begannen deshalb die Windkanalversuche mit einem 4,22 Meter langen und 3,92 Meter breiten Boeing 777X-Modell bei QinetiQ im britischen Farnborough. Das Zweistrahlermodell in 5,5-Prozent-Größe des späteren Originals wird in England ein knappes halbes Jahr lang vor allem bei niedrigen Fluggeschwindigkeiten vermessen und simuliert Starts und Landungen. Dazu ist das Windkanalmodell mit mehreren hundert Sensoren bestückt, um die Drücke zu messen und um Lasten und Flugleistungen bewerten zu können. Das Modell wird mit unterschiedlichen Klappenstellungen und ein- und ausgefahrenem Fahrwerk erprobt. 2014 folgen Windkanaltests in Seattle. Im dortigen „Boeing Transonic Wind Tunnel“ am Flughafen Boeing Field stehen jedoch die Reiseflugleistungen im Mittelpunkt der Messungen.

„Der Beginn der Windkanalversuche ist der erste größere Entwicklungsmeilenstein seit dem Programmstart im November“, sagte 777X-Chef-Projektingenieur Terry Beezhold. „Jetzt können wir unsere Leistungsvorhersagen validieren und riesige Datenberge gewinnen, mit denen unsere Ingenieurteams die Konstruktionsarbeit fortsetzen.“
Eine konstruktive Besonderheit des neuen 777X-Flügels werden Flügelspitzen zum Hochklappen am Boden sein. Trotz der für höhere Effizienz vergrößerten Spannweite will Boeing dadurch auf den Flughäfen platzsparend parken und alle bisherigen „Code E“-Gatepositionen , also in der Größenkategorie der 777-300ER oder 747-400, weiternutzen können. Flugbereit hat der Flügel der 777X eine stattliche Spannweite von 71,7 Metern. Zum Parken in jeweils unter 20 Sekunden hochgeklappt ist der Flügel aber nur noch 64,8 Meter lang. Mit hochgeklappten Flügelspitzen parkend verkraftet das Flugzeug Wirbelstürme der Hurrikan-Kategorie 1, also Windgeschwindigkeiten bis zu 153 km/h, selbst ohne laufendes Hydrauliksystem und ohne Bodenstromanschluss. Enteist werden kann der Flügel auch hochgeklappt. Eine Sperre verhindert jeden Startversuch mit hochgeklappten Flügeln; ein grünes Flugzeugsymbol im Cockpit zeigt an, dass die Flügel zum Start ausgeklappt und sicher verriegelt sind. Das Schwenken erfolgt jeweils erst unmittelbar vor dem Rollen auf die Startbahn beziehungsweise schon direkt nach dem Verlassen der Landebahn.
Neue Kabinenbreite ermöglicht zehn Sitze pro Reihe





Die Klappsegmente sind jeweils 3,4 Meter lang. Für die erste Version der Boeing 777 hatte der Flugzeughersteller schon einmal hochklappbare Flügelspitzen entworfen. Damals sollten ganze 6,9 Meter des äußeren Flügels hochgeklappt werden können, um die 777-200 möglichst auch auf dem engen Vorfeld des New Yorker Stadtflughafens La-Guardia einsetzen zu können. Entsprechend klobig und schwer war die zugehörige Mechanik, was sich mit erhöhtem Kerosinverbrauch gerächt hätte.
„Damals hat kein Kunde das Extra bestellt. Dieses Mal haben wir die Konstruktion wesentlich vereinfacht und leichter, zuverlässiger und haltbarer gemacht“, sagt Programmchef Bob Feldman. „Wir klappen jetzt nur noch den äußersten Bereich der Flügelspitze hoch. So weit außen liegen keine Steuerflächen mehr, das ist ein großer Vorteil. Der Stellzylinder ist an der Innenseite des Flügels, nahe der Naht, befestigt. Im Cockpit wird es einen Steuerschalter und eine Anzeige geben. Alles ist ganz einfach aufgebaut und sehr zuverlässig. Wir reden schon jetzt mit Flughafenbetreibern und Regulierungsbehörden weltweit, damit alle gut vorbereitet sind, wenn die 777X ihren Dienst aufnimmt.“
In einem im Sommer 2013 den Flughäfen und Zulassungsbehörden vorgelegten Planungsdokument „777X Airport Compatibility“ gab Boeing an, dass man nur alle 10 000 Landungen eine Störung der Hochklappmechanik beim Parken erwarte. Die Wahrscheinlichkeit einer Störung des Herunterklappens vor Abflug liege rechnerisch sogar nur bei einem Auftreten pro 100 000 Einsätzen.
Schon seit der Angebotsfreigabe im Mai 2013 offeriert Boeing die 777X in zwei Rumpflängen: als (vorläufig) 69,5 Meter lange 777-8X für rund 350 Passagiere bei typischer Bestuhlung (Listenpreis: 349,8 Mio. Dollar) und als gestreckte 777-9X für rund 400 Fluggäste (Listenpreis: 377,2 Mio. Dollar). Boeing bewirbt die 777-9X, die noch vorläufig genannte Gesamtlänge liegt bei 76,48 Metern, als das größte und effizienteste zweistrahlige Verkehrsflugzeug der Welt. Seine Vorteile liegen im zwölf Prozent niedrigeren Verbrauch gegenüber dem Wettbewerb, in zehn Prozent niedrigeren Betriebskosten und den niedrigsten Betriebskosten pro Sitz aller Passagierflugzeuge. Für die 777-9X wird eine Reichweite von 15 185 Kilometern versprochen, für die kürzere 777-8X sogar eine Reichweite von 17 220 Kilometern. „Eines Tages werden wir auch eine Frachterversion der 777X bauen“, verrät Bob Feldman gegenüber der FLUG REVUE, „aber die kommt erst in fernerer Zukunft.“
Die bestechend gute Wirtschaftlichkeit der 777X ist auch auf eine verdichtete Bestuhlung der Kabine zurückzuführen. Wenn man mehr Sitze einbaut, sinken natürlich die Kosten pro Platz. „Der Rumpfdurchmesser außen bleibt gleich. Aber innen verändern wir die Spante und die Kabinenverkleidung und machen die Kabine geräumiger. Einer der Vorteile des neuen Kabinenquerschnitts ist die neue Möglichkeit, auch zehn Economy-Class-Sitze pro Reihe einbauen zu können. Boeing ist Marktführer bei der Kabinengestaltung. Die 777X kriegt ein Kabinendesign und eine Ausstattung nach dem neuesten Stand der Technik“, wirbt Feldman. Auch das Cockpitdesign werde derzeit gemeinsam mit den Kunden entworfen. Geplant sei die Nutzung von 787-Technologien bei der Cockpitausstattung, der Flugsteuerung und anderen Systemen.
Angeblich erwägt Boeing auch, den Rumpf der 777X durch neue Teile aus Kohlefaser-Verbundwerkstoff leichter zu machen, etwa durch neue CFK-Fußbodenträger. „Wir bauen Verbundwerkstoff jeweils dort ein, wo er den höchsten Nutzen bringt. Wo genau das sein wird, ergibt sich aus der Konstruktionsarbeit der nächsten Jahre“, bleibt Bob Feldman noch vage. Zur Zahl der Prototypen will er sich noch nicht äußern. Die erste Auslieferung einer Kunden-777X sei für 2020 geplant. „Die heutige 777 werden wir noch so lange bauen, wie Kunden sie bestellen.“
Das Stichwort „bauen“ ist derzeit das Reizwort beim 777X-Programm. Bislang schien klar, dass Boeing die 777X wie alle vorherigen 777-Versionen auf der bewährten 777-Taktstraße in Everett, Washington, produziert. Auch dem neuen Flügelwerk für den CFK-Flügel werden gute Chancen nachgesagt, direkt in Everett angesiedelt zu werden. Doch ein langjähriger Streit zwischen dem Boeing-Management und der mächtigen Flugzeugbauer-Gewerkschaft IAM ist mittlerweile eskaliert.
Die Gewerkschafter stimmten in einer Urabstimmung gegen eine achtjährige Verlängerung ihres Boeing-Haustarifvertrags, bei dem die künftige Altersversorgung nicht mehr über die Boeing-Pensionskasse laufen, sondern teilweise durch vermögensbildende Steuererleichterungen ersetzt werden sollte. Außerdem sollten neu eingestellte Boeing-Mitarbeiter langsamer befördert werden. Mit ihrer Ablehnung schlugen die Gewerkschafter eine Barprämie von jeweils 10 000 Dollar aus. Sie argwöhnen, dass Boeing eine strategische Abwanderung aus dem US-Bundesstaat Washington längst beschlossen hat, an der etwaige Konzessionen nichts mehr ändern würden. Boeing meldete am 12. Dezember 2013, auch ein letzter Verhandlungsanlauf sei gescheitert. Boeing habe mittlerweile Bewerbungen aus 22 Bundesstaaten für 54 Ausweichstandorte erhalten. Die Regierung des Bundesstaates Washington versucht dagegen mit einem eilig beschlossenen Paket von Steuererleichterungen in Höhe von 8,7 Milliarden Dollar über die nächsten 16 Jahre, die 777X-Produktion für Seattle und Everett zu retten. Denn der Flugzeughersteller plant für die Boeing 777X Investitionen in Höhe von satten zehn Milliarden Dollar und 8500 direkte Arbeitsplätze. Allerdings fordere Boeing von den Bundesstaaten im Gegenzug ein „kostenloses oder fast kostenloses“ Grundstück, die vorhandene Infrastruktur „kostenlos oder fast kostenlos“ und den Ausbau der Infrastruktur „kostenlos oder fast kostenlos“. Dies zitierte jedenfalls die Zeitung „Seattle Times“ aus der Boeing-Ausschreibung.
„Wir erwarten eine endgültige Standortauswahl für die 777X Anfang des neuen Jahres“, sagt Programmvorstand Bob Feldman. „Der Programmfahrplan steht, und wir kommen gut voran. Das gilt auch für die erste Auslieferung 2020. Wir sind zuversichtlich und erwarten keinerlei ‚Show-Stopper‘, die uns an der Verwirklichung dieses Plans hindern.“
FLUG REVUE Ausgabe 02/2014