Schukowski bei Moskau, 15. April 1988. Auf dem Flughafen Ramenskoje macht sich eine Tupolew Tu-154B zum Start bereit. Der weiß-blau lackierte Dreistrahler trägt das Kennzeichen СССР-85035, ist Baujahr 1972 und auf den ersten Blick nur eine von Hunderten Tu-154, die zu jener Zeit in der Sowjetunion ihren Dienst verrichten. Doch der Schein trügt, denn dieses Exemplar ist alles, nur nicht gewöhnlich: Tupolew hat die СССР-85035 zum Technologieträger Tu-155 umgebaut. In dieser Rolle schreibt sie Luftfahrtgeschichte: Als erstes mit Wasserstoff betriebenes Verkehrsflugzeug der Welt erhebt sich die Tu-155 an diesem 15. April 1988 in die Luft.
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Fünf Jahre Vorsprung
Als die Nachricht vom erfolgreichen Erstflug der Tu-155 die Runde macht, geht westlich des Eisernen Vorhangs ein nervöses Raunen durch die Fachwelt: Während man in Europa damals allenfalls abstrakte Überlegungen in dieser Richtung wagt, haben es die Russen tatsächlich geschafft, ein mit flüssigem Wasserstoff betriebenes Verkehrsflugzeug in die Luft zu bringen. Zwar ist die Tu-155 ein Hybrid; nur das rechte ihrer drei Kusnezow NK-8-Triebwerke – es heißt nun NK-88 – wird tatsächlich mit Wasserstoff befeuert. Dennoch macht das Projekt im Westen Eindruck. "So schätzen Wissenschaftler aufgrund des Erstflugs der Tu-155 in der Sowjetunion, daß man dort einen Technologie-Vorsprung auf diesem Gebiet von rund fünf Jahren hat", ist damals in einer Ausgabe der FLUG REVUE zu lesen.

Wasserstoff und Erdgas
In der Folgezeit startet die Tu-155 in Schukowski zu mehr als 100 Testflügen. Nur einen Teil davon absolviert sie jedoch mit Wasserstoff: Ab Januar 1989 erprobt Tupolew vor allem Erdgas als Kerosin-Ersatz, das es in der Sowjetunion günstig und in rauen Mengen gibt. Dass man überhaupt Versuche mit Wasserstoff anstellte, fußte bei den Sowjets, im Unterschied zu heute, weniger auf ökologischen denn auf ökonmischen Motiven. Erdöl, so die Überlegung, könnte spätestens Anfang der 2010er-Jahre knapp werden – und Kerosin entsprechend teuer. Wasserstoff dagegen ließe sich mit Atomstrom vergleichsweise günstig herstellen.
Das Problem mit dem Volumen
Allerdings sehen sich die Tupolew-Ingenieure schon damals mit zwei zentralen Herausforderungen konfrontiert: Zum einen lässt sich Wasserstoff nur flüssig mit vertretbarem Platzanspruch lagern, braucht dafür aber eine konstante Kühlung auf minus 253 Grad Celsius. Zum anderen liefert Flüssigwasserstoff zwar pro Kilogramm dreimal so viel Energie wie Kerosin, beansprucht aber das Vierfache an Platz. Deshalb muss er unter hohem Druck gespeichert werden, wofür es wiederum zylindrischer oder kugelförmiger Tanks bedarf – und die lassen sich nicht mehr wie bisher in den Tragflächen unterbringen.

Große Pläne bei Tupolew
Im Testmodus löst Tupolew das Platzproblem pragmatisch: Die Kabine der Tu-155 besitzt keine Sitze, dafür neben Testapparaturen ganze Batterien an Wasserstoff-, bzw. Erdgastanks. Drei Dutzend weitere Systeme und Komponenten müssen die Ingenieure zudem anpassen, um dem Projekt zum Erfolg zu verhelfen. Eine Serienversion der Tu-155, die Tu-156, ist zu der Zeit schon in Planung. Sie sieht die Unterbringung der Tanks im hinteren Kabinendrittel vor, vom Passagierbereich abgetrennt durch ein Druckschott – ganz ähnlich also, wie es nun auch Airbus bei zweien seiner drei Entwürfe für ein Wasserstoff-Verkehrsflugzeug ins Auge fasst.

Zurück in die Zukunft?
Verwirklicht wird die Tu-156 nie, auch wenn die Tests mit der Tu-155 durchaus vielversprechend laufen. Am Ende machen vor allem die politischen Verwerfungen der 90er-Jahre dem Projekt den Garaus – obwohl es sogar Bestrebungen zwischen deutschen und russischen Vertretern gibt, gemeinsam weiter am Wasserstoffantrieb zu forschen. Nach mehrfachen Besuchen im Westen – 1990 war die Tu-155 zum Beispiel in Hannover auf der ILA zu Gast – gerät das Projekt ins Hintertreffen. In den folgenden Jahrzehnten rottet die Tu-155 in Schukowski vor sich hin. Seit einiger Zeit jedoch kümmern sich Studenten und andere Freiwillige nach eigener Aussage ehrenamtlich darum, dass sie nicht komplett verkommt. Seither sieht man sie regelmäßig im Static Display des alle zwei Jahre in Schukowski stattfindenen Aviasalons MAKS – ohne Triebwerke zwar, aber doch als Zeugnis einer vergangenen Epoche, die vor über 30 Jahren die Zukunft der Zivilluftfahrt womöglich vorweg nahm.