Eigentlich hatte man bei Aeroflot einmal andere Pläne. Eine Fünfsterne-Airline wollte der russische Flag Carrier werden, alle russischen Flugzeugmuster an die Tochter Rossija weiterreichen und sich vor allem auf moderne Airbus-Jets wie die A350 konzentrieren. Dieses Ziel, zu erreichen bis 2028, gaben die damaligen Aeroflot-Verantwortlichen um Chef Witali Saweljew noch im Sommer 2020 vor. Damit einhergehen sollte eine Umschichtung innerhalb des Konzerns, bei der Aeroflot zur Premiummarke und die Töchter zu arbeitsamen Brot-und-Butter-Gesellschaften werden sollten. Damals schienen diese Ziele zwar gewagt, aber doch einigermaßen realistisch. Zweieinhalb Jahre später wirken sie geradezu irrwitzig.

Plötzlich alles anders
Mit dem 24. Februar 2022, dem Tag des russischen Einmarschs in die Ukraine, hat für Russland wie für den Westen eine neue Zeitrechnung begonnen. Was zuvor selbstverständlich schien, ist plötzlich weit weg – und dazu zählt auch die Lieferung fabrikneuer, westlicher Flugzeuge an russische Fluggesellschaften. Witali Saweljew ist inzwischen Verkehrsminister – und steht, zusammen mit anderen Regierungsmitgliedern, vor der Herausforderung, den zivilen Flugverkehr in Russland für die neuen Gegebenheiten umzubauen. Künftig werden russische Airlines – ob sie wollen oder nicht – wieder auf Fluggerät russischer Bauart setzen. Mehr als 1.000 neue Maschinen sollen bis Ende 2030 aus den Flugzeugwerken des Landes rollen. Allein 339 davon sind für die verhinderte Fünf-Sterne-Airline Aeroflot bestimmt: Im September 2022 unterschrieben Aeroflot und die staatliche Flugzeugbau-Holding UAC (OAK) eine entsprechende Absichtserklärung. Sie umfasst neben 210 Irkut MS-21 und 89 russifizierten Suchoi Superjet-NEW auch 40 Exemplare der Tupolew Tu-214. Die ersten sieben Tu-214 sollen 2024 in Dienst gehen.

Reibungspunkt Dreimann-Cockpit
Der neue Aeroflot-Generaldirektor Sergej Alexandrowski, seit März 2022 im Amt, ist von der Tu-214 allerdings noch nicht überzeugt. Das sagte er jüngst in einem Interview mit dem russischen Wirtschaftsmagazin RBK. Konkret stört sich Alexandrowski nach eigenem Bekunden an der antiquierten Cockpit-Auslegung der Tu-214. Denn der Zweistrahler fliegt zwar per Fly-by-Wire und besitzt Glasbildschirme statt analoger Instrumente – dennoch ist er standardmäßig für den Betrieb mit einer dreiköpfigen Flight Crew ausgelegt. Das aber ist für den Aeroflot-Boss nicht akzeptabel – aus verständlichen Gründen. So sei ein dritter Mann im Cockpit nicht nur "mit zusätzlichen Kosten verbunden". Es gebe auf dem Markt auch schlichtweg nicht mehr genug qualifizierte Flugingenieure und "keine Schule mehr", um sie auszubilden. "Das ist ein Stück Geschichte", das sich nur das Militär und Frachtunternehmen leisten könnten, so Alexandrowski. Deshalb werde Aeroflot "auf jeden Fall" die Anforderung stellen, die Tu-214 für eine zweiköpfige Besatzung auszulegen. "Dies ist eine schwierige Aufgabe für den Hersteller, aber wir werden diese Anforderung nicht aufheben, sondern darauf bestehen", unterstreicht Alexandrowski im RBK-Gespräch.

"Pionier" Tu-204SM
Völliges Neuland wäre ein Zweimann-Cockpit in der Tu-214 für die Projektbeteiligten nicht. Denn in der Riege der Tu-204-Versionen, zu der auch die Tu-214 gehört, gab es bereits eine Vertreterin, bei der der dritte Mann gestrichen wurde: die Tu-204SM, die zu diesem Zweck die neue, in Russland entwickelte, Avionik-Suite PNK 204 mit stärkerem Computer und neuem Flugmanagementsystem erhielt. Des Weiteren besaß die Tu-204SM Head-up-Displays sowie ein automatisches Wartungs- und Diagnosesystem. Allerdings wurden von der Tu-204SM gemäß der Datenbank russianplanes.net lediglich vier Exemplare gebaut, zwei weitere sind bisher unvollendet.

Warum Aeroflot die Tu-214 braucht
Für Aeroflot-Mann Alexandrowski gibt es an einer Zwei-Mann-Auslegung der Tu-214 indes keine Kompromisse. Selbst wenn es aus Zeitgründen zunächst zur Auslieferung von Exemplaren mit Dreimann-Cockpit käme, müsse die Industrie das Flugzeug langfristig mit den Aeroflot-Forderungen in Einklang bringen und auf Zweimann-Betrieb umstellen. Ziel sei es nach wie vor, die ersten Tu-214 im Jahr 2024 einzuflotten. Jedoch habe man "noch keine Bestätigung, dass sie unsere Anforderungen bis zu diesem Zeitraum erfüllen können." Generell aber sieht der Aeroflot-Generaldirektor die Übernahme des schon etwas angestaubten Tupolew-Twinjets als sinnvoll an. Schließlich sei die Tu-214 ein bewährtes, technisch ausgereiftes Flugzeug, dessen Eigenheiten bekannt und verstanden seien. Demgegenüber käme etwa die MS-21 als vollständig neues Flugzeug vom Band. "Wie es fliegen wird, wie es sich im Passagierbetrieb verhalten wird, wie der Prozess der gemeinsamen Verbesserungen ablaufen wird – diese Fragen wird jetzt niemand beantworten", stellt Alexandrowski dar. Die Tu-214 könne hier Druck aus dem Kessel nehmen: Ihre Nutzung "wird es uns ermöglichen, die MS-21 in Ruhe in den erforderlichen Zustand zu bringen."