Der 17. August 2021 war ein schwarzer Tag für Russlands Flugzeugindustrie. An jenem Tag stürzte, nahe des Militärflugplatzes Kubinka, der Prototyp des neuen Militärfrachters Iljuschin Il-112W ab. Alle drei Besatzungsmitglieder fanden dabei den Tod. Ein offizielles Ergebnis der Flugunfalluntersuchung gibt es bis heute nicht – dennoch scheint klar, dass ein Problem im rechten Triebwerk ursächlich für das Unglück war. Möglicherweise geriet es durch Überhitzung in Brand und löste damit eine Kette verhängnisvoller Ereignisse aus, die schließlich zum Crash führten. Die Entwicklung der Il-112W geriet dadurch ins Stocken, seit Mitte Februar 2022 liegt sie sogar komplett auf Eis. Man möchte zunächst den Abschluss der Ermittlungen abwarten – und geht offenbar davon aus, dass man das Flugzeug tiefgreifend umkonstruieren muss.

"Sippenhaft" für Il-114-300
Was aber hat das Dilemma um die Il-112W nun mit dem Turboprop-Airliner Il-114-300 zu schaffen? Ganz einfach: Die Il-112W und die Il-114-300 teilen sich denselben Triebwerkstyp. Beide Flugzeuge nutzen das Klimow TW7-117ST, eine modifizierte Variante des in den 90er-Jahren entwickelten TW7-117. Die Motoren der Il-114-300 firmieren zwar unter der erweiterten Bezeichnung TW7-117ST-01, besitzen mit 3.100 PS jedoch die leiche Startleistung wie jene der Il-112W. In Aufbau und Konstruktion unterscheiden sie sich kaum. Und so war auch der Prototyp der Il-114-300, dessen Zelle eigentlich schon über 27 Jahre alt ist, seit dem Absturz der Il-112W in Kubinka nicht mehr in der Luft. Bis heute hat sich daran nichts geändert. Russlands Vize-Premierminister Juri Borisow musste bereits im September 2021 eingestehen, dass sich das Programm verzögern werde. Man erwarte jedoch, bis Ende 2021 zwei weitere, komplett neue Il-114-300 zu produzieren, so Borisow damals.

"Erweiterung der Produktion"
Inzwischen schreiben wir bereits Mai 2022 – und die Fertigstellung der beiden angekündigten Maschinen steht noch immer aus. Derweil haben sich durch den Ukraine-Krieg und die damit verbundenen westlichen Sanktionen die Bedingungen für Russlands Passagierluftfahrt in kürzester Zeit massiv verschärft. Umso dringender bräuchte man deshalb eigentlich moderne Flugzeuge aus heimischer Produktion, um die westlichen Pendants zumindest wirksam zu ergänzen.
Russische Medien berichten nun von einem Besuch des Gouverneurs der Oblast Moskau, Andrej Worobjew, im Flugzeugwerk von RSK MiG in Luchowizy. Dort befindet sich die Endmontagelinie für die Il-114-300, deren Komponenten unter anderem in Woronesch und Uljanowsk entstehen. Im Rahmen des Besuchs diktierte Worobjew mitreisenden Journalisten in die Blöcke, der Bau des zweiten Prototyps der Il-114-300 werde gerade abgeschlossen. Noch in diesem Jahr solle eine "Erweiterung der Produktion" starten. Bis 2025 plane man einen massiven Hochlauf der Serienproduktion und die Einstellung von 500 neuen Mitarbeitern. 50 neue Arbeitsplätze seien in Luchowizy durch das Projekt bereits entstanden.

Was ist mit dem Triebwerk?
Wie dieser Zeitplan mit der anhaltenden Flugpause des existierenden Prototypen und den offensichtlichen Problemen des Programms vereinbar sein soll, darüber verlor der Gouverneur öffentlich bislang kein Wort. Auf Telegram schrieb er im Nachgang seiner Werksbesichtigung lediglich, die Il-114-300 werde "in Sibirien, im Fernen Osten und in der Arktis sehnlichst erwartet." Zudem werde das Flugzeug vollständig aus einheimischen Komponenten hergestellt. Das entspreche der Anweisung des russischen Präsidenten, den Anteil einheimischer Flugzeuge deutlich zu erhöhen, damit Russland nicht weiter "von den Launen und Entscheidungen westlicher Länder abhängig" sei. "Solche Flugzeuge haben wir seit fast 30 Jahren nicht mehr gebaut", so Worobjew weiter.
In einem Video, das der Politiker auf der russischen Social Media-Plattform VKontakte teilte, ist tatsächlich eine fast fertige Il-114-300 zu erkennen, in deren Motorgondeln bereits Triebwerke eingezogen sind. Womöglich spekuliert man auf eine baldige Wiederaufnahme der Flugtests. Dennoch bleibt unklar, wie genau die Russen mit dem Projekt Il-114-300 weiter verfahren wollen und ob hinter den Kulissen bei Klimow bereits an einer verbesserten, weniger anfälligen Version des TW7-117ST gearbeitet wird. Denn bei allem Ehrgeiz, den Russland nun in das rasche Vorankommen neuer ziviler Flugzeugprojekte investiert: den Absturz einer mit Passagieren besetzten Linienmaschine, verursacht durch das Versagen eines nicht ausgereiften Triebwerks, wird man sich nicht leisten können.